32 Lesungen in 32 Ortschaften. Ihr Verleger war stolz auf diese Zahl. Es war nämlich gar nicht so leicht für das Buch mit dem etwas seltsamen Titel „Am Umschlagbahnhof“ Leseorte zu finden. Erst das Festival „Die erzählte Stadt“ in Wiesbaden brachte den Durchbruch. Die vorgetragenen Geschichten von Migranten machten auf sie aufmerksam. Erste Besprechungen führten zu Einladungen. Nie hätte sie mit so vielen Einladungen gerechnet. Sie führte ganz genau Buch über die Lesungen: Wie viele Exemplare jeweils verkauft wurden, wie viele Bücher sie signieren konnte, wie viele Zuhörende gekommen waren, wie viele Fragen gestellt wurden. Die originellsten Fragen trug sie in ihr Notizbuch ein. Die 26. Lesung fand an der Buchmesse in Frankfurt statt. Wie laut und wie ermüdend diese Messe ist, ahnte sie nicht im voraus. Es war ihr allererster Besuch an der Messe. Eine Büchersignierung am Verlagsstand, eine Lesung im Lesezelt, eine Doppellesung mit einer anderen Autorin aus der Schweiz im „Cosmopolitan“ im Frankfurter Hauptbahnhof. Anders als in der Schweiz, wo jeder jeden zu kennen scheint, kannte sie niemanden an ihren Lesungen in Deutschland. Immer war’s eine freundliche Buchhändlerin oder ein freundlicher älterer Bibliothekar, die sie kurz einführten. Die vorgetragene Biografie stammte aus dem Netz, ihre Homepage erwies sich als nützlich. Aber nach der Lesung in Frankfurt, nach dem 26. Auftritt mochte sie nicht mehr. Noch weitere sechs Lesungen, immer dieselben Textstellen vorlesen, sich immer dieselbe Biografie anhören müssen, immer die fast selben Fragen beantworten. Nein, nicht mehr. Ihr Verleger war strikt gegen Absagen. Denn an jeder Lesung liessen sich Bücher verkaufen. Und schliesslich hatte er doch nur mit viel Mühe diese Leseorte ausfindig gemacht, die Auftritte vereinbart. Es war Liliane, die die Idee hatte. Liliane ist Schauspielerin. Und die beiden sind seit langem befreundet. Liliane schlug vor, an ihrer Stelle die Lesereise fortzusetzen. „Nenn’ mir die am häufigsten gestellten Fragen“, sagte Liliane. „Und erzähl mir deine Antworten. Lesen kann ich ja.“ In Wittenberg fand die Feuertaufe statt: Liliane vorne am Lesetisch, vor ihr rund vierzig Zuhörer. Die Begrüssung, die Vorstellung der Autorin, ein kurzer und höflicher Applaus für die Buchhändlerin. Dann die Lesung aus dem Buch. Zweimal je zwanzig Minuten Vorlesezeit. Dazwischen freies Erzählen über die Entstehung des Buchs, über die Titelwahl. Und dazu noch Bemerkungen über das Finden von Erzählstoffen und das Erfinden von Figuren. Nach dem zweiten Vorleseblock die Publikumsfragen. Anschliessend das Abendessen im griechischen Restaurant Athos am Bahnhof und unruhiger Schlaf im „Goldenen Adler“ am Markt. „Ich bin Du“, stand in der SMS, die Liliane nach der gelungenen Lesung verschickte. Regensburg, Bamberg, Wiesbaden, Trier und Aachen waren die nächsten Stationen. Niemals hätte Liliane es gewagt, nahe der Schweizer Grenze vor Publikum zu lesen. In Konstanz, Freiburg im Breisgau oder in Lörrach hätten Freunde oder Bekannte aus der Schweizer Nachbarschaft den Schwindel aufgedeckt.
Michael Guggenheimers Website:
-
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- inge reisinger bei Zimmer mit Aussicht
- anna überall bei Auf nach Paris
- Andrea Isler bei Stilleben
- Ro12 bei Bildermacher
- Albert Reifler bei Zimmer mit Aussicht
Archive
- November 2014
- Juli 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- April 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- September 2013
- August 2013
- Juli 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012
- Dezember 2011
- November 2011
- Oktober 2011
- September 2011
- August 2011
- Juli 2011
- Juni 2011
- Mai 2011
- April 2011
- März 2011
- Februar 2011
- Januar 2011
- Dezember 2010
Kategorien