Der Brillenflüsterer

Der Ladenbesitzer nennt ihn „Brillenflüsterer“. Das ist der Mann, der mehrmals im Jahr Freunde, Bekannte, Berufskollegen anschleppt. Anschleppen ist nicht das richtige Wort. Anschleppen klingt anrüchig. Im Gespräch macht der Brillenflüsterer jeweils sein Gegenüber darauf aufmerksam, dass die Zeit für eine neue Brille nun wirklich gekommen sei. „Wie lange trägst du diese Brille schon“, fragt er einen Freund. „Du solltest dich wieder um dein Aussehen kümmern“, sagt er einem guten Bekannten. „Deine Brille trägst du auch schon ziemlich lange, nicht wahr?“, bemerkt er beiläufig in einem Gespräch im Büro. Und dann rühmt er einen Optiker. Und er schildert das Prozedere, lobt stets denselben Optiker in den allerhöchsten Tönen. „Du wirst sehen, der findet genau die Brille, die zu deinem gesicht passt“, prophezeit er. Ein Optiker mit Laden in der Altstadt, er sei der beste weit und breit. Er schildert, wie der Optiker seine Kunden in ein Gespräch einbindet, wie er den Kunden lange sehr genau anschaut, wie er erste Fragen stellt und sich überlegt, welches Brillengestell zu seinem Gegenüber am besten passen könnte . Der Brillenflüsterer lobt den Mann, der sich bei jeder Beratung so viel Zeit nehme. Wie er dann aufstehen, hinter einem Vorhang verschwinden und erst nach etwa zehn langen Minuten wiederkommen werde. Drei oder höchstens vier Brillengestelle werde er in der Hand haben. „Und du wirst sehen: Unter diesen vier Modellen wird dein neues Brillengestell sein“. Der Brillenflüsterer wird seinen Freund, Bekannten oder Berufskollegen begleiten, er wird neben ihm sitzen und wird ihm als Berater dienen. Es sind nicht lange Sätze, die er sagen wird. Es ist eher en zustimmendes Nicken, ein skeptischer Blick, ein zustimmender Laut, ein zufriedener Gesichtsausdruck oder eine ablehnende Geste. Der Optiker und der Brillenflüsterer kennen sich gut genug, um zu wissen, wie sie aufeinander reagieren sollen. Es ist ein stilles und gut eingeübtes Spiel. Sie sind mit den Jahren ein bewährtes Zweiergespann geworden. Stets lobt der Optiker die Urteilskraft und den Geschmack des Brillenflüsteres. Und immer wieder begrüsst er den Brillenflüsterer so, als ob er ihn seit langer Zeit nicht mehr gesehen hätte. Die Provision holt der Flüsterer erst einige Tage später ab.

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