Hotel

Er hatte den Ort mit Bedacht ausgesucht. Anderthalb Stunden Bahnfahrt, umsteigen auf einen Regionalzug, um dann am Dorfbahnhof mit einem Auto abgeholt zu werden. Keine grosse Stadt, kein beliebter Touristenort. Es sollte ein Ort sein, in dem sie beide zweieinhalb ruhige Tage verbringen, ungestört sich näher kennenlernen und erleben könnten, unbeobachtet auch. Ein kleines umgebautes Schloss hoch über dem See, kein mondänes Hotel, ein Haus mit achtzehn Zimmern und einem grossen Garten mit einem alten Baumbestand. Ein Doppelzimmer mit Sicht auf den See hatte er reserviert. Und ihm gefiel, dass das Haus weder über einen Fernseher noch über WLAN verfügte. Zweieinhalb Tage und zwei Nächte. Zu Hause hatte er von einem Seminar erzählt, von zwei Weiterbildungstagen zum Thema „Kommunikation im Betrieb“, der Kursleiter sei aus Deutschland, ein Dr. Middendorp aus dem Raum Frankfurt, den er nicht kannte. Und er würde nur schwer erreichbar sein, würde sein Handy nur in den Kurspausen anstellen. Das Haus erwies sich schöner als erwartet: schlichtes modernes Mobiliar, eine Bibliothek mit zwei Sofas und zwei Arbeitstischen, ein Fumoir, eine Eingangshalle mit einer Sitzgruppe und mit guten Zeitungen und ausgesuchten Zeitschriften bestückt, ein schönes Treppenhaus, dem man ansah, dass das kleine Landschloss im Barock gebaut worden war. Eine Sauna und ein türkisches Bad, ganz in blauen Kacheln, in dem sie sich gewiss entspannen würden. Und dann dieser lauschige Park auf der Ostseite der Anlage. Das kleine Hotelrestaurant, in dem laut Prospekt nur biologisch zertifizierte Produkte verarbeitet werden, gefiel beiden auf Anhieb. Wie wunderbar dieses Ankommen gegen Abend war, wissen, dass sie Zeit haben würden. „Ob man uns ansieht, dass wir zusammen waren“, fragte sie ihn beim Abendessen. Sie war überzeugt davon, dass man es ihnen ansehen müsste. „Sollen sie“, sagte er, und blickte sich um, sah sich die wenigen Gäste an. Morgen würden sie eine Radfahrt auf zwei Hotelrädern unternehmen, er hatte die Sauna und das türkische Bad reserviert. Wie ruhig es hier ist, sagte sie am Morgen. Sie blieben lange liegen, Frühstück bis 11 Uhr, sie mussten sich nicht beeilen, denn es gab keinen Kurs hier, es gab keine Gruppenarbeit, es gab keinen Dr. Middendorp, es gab nur sie beide. Als sie etwas nach 10 Uhr im Frühstücksraum erschienen, kam es fast zu einer Katastrophe. Nur fast. Denn er hatte sich im Griff und sie ahnte nicht, konnte es nicht wissen: Da sass sein Chef an einem Tisch, sass mit einer Freundin, jedenfalls nicht mit der eigenen Frau und sah seinen Abteilungsleiter mit einer Fremden den Frühstücksraum betreten. Man begrüsste sich kurz, die beiden Herren taten so, als würden sie sich nicht kennen. Und sie strengten sich auch an, sich nicht zu beachten. Ob es an dieser wortlosen Begegnung lag, dass der Aufenthalt im Schlosshotel gegen Mittag abrupt abgebrochen wurde? „Ich fühlte mich nicht gut“, sagte er zu Hause, als er unerwartet früh zurückkam. Er fühlte sich zu schlecht, um etwas über Dr. Middendorps Kursleitung oder über die anderen Kursteilnehmer zu sagen.

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Eine Antwort zu Hotel

  1. Patrick sagt:

    Diese mehr tägigen Weiterbildungskurse. Schon immer dienten sie Männern wie Frauen dazu, kleine Seitenwege zu betreten. Man lernt sich kennen und verschwindet nach dem Kurs in einem der Zimmer. Nach dem Kurs ist’s aus oder es geht erst recht weiter. In diesem Fall ist’s eine Variante: Man besucht einen Kurs, den es nicht gibt. Raffiniert. Manchmal geht’s aber schief. Patrick Sommerrfeldt

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