Im Granitgebiet

Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen? Oder lieber etwas Kühles? Das sind die Eröffnungsfragen der Podologin noch bevor ich mich von den Socken befreit habe. Kurz spüre ich eine Unsicherheit: Habe ich meine Füsse heute früh auch wirklich gewaschen? Ja, ich habe geduscht. Gut so! Aber es ist jetzt nachmittags um 4 Uhr und ich habe morgens um sechs geduscht. Und sind meine Socken noch frisch? Na ja, vor drei Tagen habe ich die Socken gewechselt. Es geht so. Es ist jetzt zu spät. Und sie wird auch noch andere Kunden haben, Kunden, die mit feuchteren Schweissfüssen zu ihr kommen. Und es ist ihr Berufswunsch gewesen, nicht meiner, sich den Füssen der Anderen von nahem auszusetzen. „Waren Sie schon in den Ferien?“. Das ist ihre Standardfrage sobald ich auf dem Behandlungsstuhl sitze, der jetzt langsam nach oben gehievt wird, damit meine Füsse in ihre Arbeitshöhe landen. Und wenn es nicht diese Frage ist, dann kommt ganz gewiss eine Variation: „Haben Sie noch einen Urlaub vor sich?“. Die Gespräche bei der Podologin sind anders als beim Frisör. Er kommt aus Anatolien, sie aus dem Thurgau. Er steht die ganze Zeit, rechts und links von uns sitzen die anderen Kunden, die Gespräche finden auf kurdisch oder türkisch statt, ich kann da nicht mithalten, weiss nicht worum es geht. Mehr als „Augenbrauen!“ oder „Mit Maschine, 3 Milimeter“ ist als Unterhaltung bei meinem Frisör selten möglich. Sie aber sitzt am Fussende, meine Füsse vor ihren Augen, sie arbeitet sich von Zehennagel zu Zehennagel mit ihren spitzen Instrumenten durch, es ist eine harte Arbeit, denn im Gegensatz zur Arbeit an meinem spärlichen Kopfhaar gleicht ihre Arbeit im Widerstandsgebiet derjenigen eines Bauarbeiters, denn meine Zehen sind hart und gleichen schnell wachsendem Gestein im Granitgebiet. Wir unterhalten uns zuerst über ihre Radferien im Südtirol und über meine Radferien in der Bretagne. Weshalb weiss sie eigentlich nach zwei Monaten immer noch, dass mich meine letzte Geschäftsreise nach Amsterdam geführt hat? Und wieso konnte sie sich merken, dass ich kein Auto besitze? Wann habe ich ihr davon erzählt, ich weiss es nicht mehr. Ich habe sie im Verdacht, dass sie eine Art Kundendatei führt, in der sie jeweils die Gesprächsthemen mit ihren Kunden nachführt: Die Podologin als meine Gedächtniserweiterung. Sie weiss mittlerweile, dass ich Filme liebe, viel ins Kino gehe. Als wir uns über den neuen Film von Woody Allan unterhalten, erinnert sie mich daran, dass ich den Film ‚Matchpoint‘ schon gesehen und nicht gut gefunden habe! Unerhört: Sie kennt mich in manchen Bereichen besser als ich mich kenne. Wir unterhalten uns über Metzgermeister Hubacher, der in der Nähe seinen Laden hat. Auch er ist ihr Kunde. Hat sie eine Indiskretion begangen, indem sie mir erzählt hat, dass er seine Zehennägel jeweils blau färben lässt? Hätte ich ihr vielleicht lieber nicht sagen sollen, dass ich bei einer Versicherung arbeite, wo sie mich jetzt fragt, ob auch meine Versicherungsagentur 30 Prozent der Stellen streichen muss? Ich kann die Antwort umgehen, weil sie jetzt mit einer Fräse die Oberflächen meiner Zehennägel schleift und ich sie danach frage, seit wann eigentlich auch Männer zur Pedicure kommen. Sie holt zu einer kleinen Rede über die Bedeutung des Gehapparats im Alltag aus und ich höre nicht zum ersten Mal, dass gerade auch jüngere Männer in den Sommermonaten regelmässig zur Podologin kommen, weil sie im Freibad mit gepflegten Füssen auftreten und guten Eindruck hinterlassen wollen. Ob das ein Trost sein soll, damit ich mich mit meinen mehr als 60 Jahren noch jung fühlen soll? Als sie die breite Nagelzange aus der Schublade hervorholt, mit der sie die dicken Nägel bearbeiten wird, weiss ich, dass ihre Arbeit derjenigen eines Betonbrechers gleichen wird, der viel Kraft und Ausdauer benötigt. Sie tröstet mich noch bevor sie ansetzt: „Ihre Nägel sind aber wirklich schöner geworden“. Sie sagt es nicht zum ersten Mal, ich habe den Satz schon mehrmals gehört, er gehört zu ihrem Trostvokabular, meine Zehennägel werden trotzdem nicht schöner, sie werden bei jeder Behandlung widerstandsfähiger. Was weht tut, das ist zuerst die Eckenfeile, mit der sie unter die Zehennägel arbeitet und dann die Hautzange, mit der sie anschliessend die Haut um die Zehenägel bearbeitet. Ich staune, wie viel abgestorbene Hornhaut mit der breiten Feile jedes Mal mitkommt. Wenn sie am Schluss mit einer Crème meine Füsse massiert, glaube ich kurz daran, dass meine Füsse wirklich um vierzig Jahre jünger geworden sind. Aber nur kurz. Und weil ich auf ihre entsprechende Frage keine Antwort gegeben habe, kommt zum Schluss als sie mir meine Socken anzieht, was ich eigentlich gar nicht so mag, sie aber daran nicht hindern kann, die Frage nochmals: „Und wissen Sie schon, wohin sie in die Ferien fahren werde?“. Ecuador sage ich. Ich weiss nicht, weshalb mir Ecuador einfällt. Aber mir ist klar, ich werde mich vor der nächsten Behandlung bei ihr im Internet über Ecuador fit machen müssen. Ich muss es mir nur noch in meine Agenda eintragen. Denn auch ich führe eine Art Gesprächsjournal.

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2 Antworten zu Im Granitgebiet

  1. rehli sagt:

    Hast du sie noch alle, deine Zehen? Witziger Beitrag!

  2. tiara sagt:

    Ma pédicure est extraordinairement silencieuse. Dans les premières minutes bien sûr, les questions obligatoires: comment allez-vous? Vous ne souffrez pas de la chaleur/du froid/de la grisaille, etc.? Puis je me détends dans mon fauteuil et profite de la vue sur la Limmat et sur mes pieds! J’ai toujours pensé que les plus belles parties de mon corps étaient mes mains et mes pieds. Force est de constater que ce ne sont pas vraiment des atouts de séduction! Et puis, comme tout, l’âge ne les arrange pas. Mes pieds se déforment, les ongles ont de drôles de taches inexplicables et prennent des formes baroques, les gros orteils sont disproportionnés par rapport aux autres doigts de pied (il paraît que certaines parties de notre corps continuent de grandir toute la vie: les oreilles, le nez, les orteils!), mais quand je les vois dans les mains de la pédicure, je ne peux m’empêcher d’éprouver un élan de tendresse pour ces appendices souvent ignorés, parents pauvres de notre attention esthétique. Pourtant que ne font-ils pas pour nous? 24 heures sur 24 en action et en opération: marcher, sauter, courir, tenir, déplacer, jouer, danser et j’en passe! Sentinelles, radars, à l’occasion tyrans, de nos chemins. Oui, j’aime bien aller chez la pédicure, ne serait-ce que pour revoir et saluer mes pieds!

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