Ein Bild für das Wohnzimmer

Sie kennen sich alle im Dorf. Und sie wissen alles voneinander. Fast alles. Wer mit wem und wer wo. Und gerade das mag sie nicht. Gerade deshalb will sie nicht zurückkehren, will sie nicht mehr im Dorf wohnen. Sie ist im Dorf aufgewachsen, sie hat hier Kindergarten und Grundschule besucht, sie ist später von hier aus jeden Morgen mit dem Schulbus in die Stadt ins Gymnasium gefahren und am Abend wieder zurück. Genauso wie ihr Bruder und ihre beiden Schwestern. Sie kennt jeden Winkel im Dorf, ihr sind die Namen immer noch vertraut, sie kennt die Geschichten auch wenn sie nicht mehr hier wohnt. Auch noch Jahre später. Denn wenn sie ihre Eltern trifft, wenn sie bei ihnen zu Besuch ist, dann werden die Geschichten aus dem Dorf erzählt: Wer mit wem und wer wo. Das Haus ihrer Eltern steht an der Strassenkurve in der Dorfmitte, ihr Vater, der in der nahen Stadt gearbeitet hat, muss heute nicht mehr arbeiten, er hat es zu Wohlstand gebracht: Landverkäufe, Grundstückhandel gerade zur guten Zeit, als wieder Häuser auf dem Land gefragt waren. Junge Paare wollten, dass ihre Kinder nicht mehr in der lauten Stadt und an viel befahrenen Strassen aufwachsen. Gut gemeint hat er es, als er seinen vier erwachsenen Kindern je ein Einfamilienhaus bauen liess. Häuser nach seinen Vorstellungen, die vier Kinder sollen wieder im Dorf leben, die Familie soll beisammen bleiben. Weisse Würfel hat er bauen lassen, die einzigen Flachdachbauten im Dorf, er wollte modern sein. Ihre beiden Schwestern arbeiten in benachbarten Ortschaften. Sozialarbeiterin und Ergotherapeutin, beide sind Mütter und nachmittags, wenn die Kinder von der Schule zurückkommen wieder zu Hause. Nur die Jüngste mag nicht zurück ins Dorf. „Ich vermiete das Haus bis du kommst“, sagte er ihr, als sie für mehrere Jahre ins Ausland zog, um zuerst dort zu lernen und dann zu arbeiten. „Ich muss in der Stadt sein“, sagte sie ihrem Vater als sie zurückkam und sich nicht entschliessen mochte, ins Dorf zu ziehen. „Meine Klienten treffe ich in der Stadt“. Sie kam damals nicht alleine aus dem Ausland zurück, sie brachte einen Ausländer mit, der auch nicht im Dorf leben wollte. „Wann kommst du ins Dorf zurück?“, fragen die Dorfbewohner, denen sie bei Besuchen bei ihren Eltern begegnet. „Dein Vater hat ein wunderschönes Haus für dich gebaut, willst du nicht zurückkommen? Ist doch sicher billiger hier als in der Stadt. Und wenn ihr dann Kinder habt, dann ist es bei uns viel sicherer“. Sie will nicht zurückkommen. Sie mag nicht jeden Morgen in die Stadt fahren, im Stau stehen und abends auf dem Rückweg wieder. Und was sollen diese Bemerkungen mit den Kindern überhaupt, was geht die das an! „Du solltest hier im Dorf leben“, sagt ihr Bruder, „Vater hat uns doch wunderbare Häuser gebaut“. Im Dorf grüssen sich alle, im Dorf kennen sich alle. Gerade das mag sie nicht. Im Dorf gibt es einen kleinen Lebensmittelladen. Und einen Antiquitätenladen, dessen Besitzerin jedes Jahr nach Prag fährt und von dort billige Antiquitäten mitbringt, die sie dann mit Gewinn verkauft, weil Antiquitäten im Osten billiger sind. Es gibt kein Restaurant im Dorf, keinen Zeitungskiosk, kein Café. Auch kein Postbüro und keine Arztpraxis. Nur eine Tankstelle ist noch da, eine Tankstelle ohne Personal. Ohnehin würde sie nie im Dorf ein Café aufsuchen. Der Bus kommt im Dorf bloss zweimal im Tag an. Sie will in der Stadt bleiben, wo man sich nicht grüssen muss. Sie will nicht im Garten Unkraut jäten oder den Rasen mähen müssen. Sie will nicht, dass alle wissen, ob sie jetzt weg oder da ist, ob Besuch da ist, ob sie wieder Ferien macht und im Ausland weilt. Sie will nicht nach jedem Regen diese glitschigen Schnecken im Garten einsammeln müssen oder dafür sorgen, dass die Hecken geschnitten werden und der Garten ordentlich aussieht. Sie hasst alle diese Tätigkeiten. „Du bist undankbar“, hat ihr Bruder vor kurzem wieder gesagt. Als er mit seiner Frau und den beiden Kindern im Ausland weilte, war sie dabei, als Vater Freunde durch das Haus ihres Bruders führte, das Kinderzimmer zeigte, das Schlafzimmer seines Sohnes und der Schwiegertochter öffnete, mit dem grossen, mit Designmöbeln eingerichteten Wohnzimmer prahlte, dessen Grösse er bestimmt hat, als sei es sein eigenes Haus. Demnächst werde er noch Bilder für die leere Wand im Wohnzimmer seines Sohnes kaufen, am liebsten ein grossformatiges Bild. „Was willst du, das ist doch auch mein Haus“, sagte er ihr und verstand nicht, was sie gegen diesen Besuch im Haus ihres Bruders und dagegen hatte, dass er die Schlüssel der vier Häuser seiner erwachsenen Kinder hat. Sie kennt alle Blumen im Garten ihrer Eltern beim Namen, sie weiss genau, wann welche Blumenzwiebeln gesetzt werden müssen. Sie hat lange genug hier gelebt. Aber sie will es nicht mehr wissen. Sie will weiter in der Stadt leben. Ihre beiden Schwestern singen im Dorfchor. „Wir könnten abwechslungsweise deine Kinder hüten, wenn du weiterhin in der Stadt arbeitest und hier wohnst“, sagen die Schwestern, die sich darüber wundern, dass sie noch keine Kinder hat. Man tuschelt über sie im Dorf. Ihr Mann sei schuld daran, dass sie nicht zurückkomme. Neuerdings kommt es vor, dass sie bei Spaziergängen durch das Dorf nicht gegrüsst wird. „Undankbar“, sagen sie. „Arrogant“. Vaters Angebot, ihr jeden Monat die Miete zu überweisen, solange ihr Haus vermietet sei, hat sie ausgeschlagen. Vater versteht es nicht: Sie könnte jeden Monat ein gutes Geschäft machen. Wie sie diese gepflegten Gärten hasst. Wie sie es hasst, dass hier die Haustüren nicht abgeschlossen werden, dass Nachbarn hier jederzeit vorbeischauen könnten. Vater gibt nicht auf. Er versucht es immer wieder. Und ihre Geschwister setzen sie ebenso unter Druck. Sie ist die undankbare Tochter, langsam glaubt sie sogar daran. Aber wohnen wird sie nicht in Vaters geschenkten Haus.

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Eine Antwort zu Ein Bild für das Wohnzimmer

  1. vielleicht stellt sich der autor das landleben zu idyllisch vor. auch wenn die geschilderte idylle schrecklich sein müsste. aber ich denke, landleben ist agglo-leben. die postbüros längst verschwunden. die läden auch. man fährt ins einkaufszentrum vor der stadt. und kennt zuhause auf dem land niemanden. klar, texte bilden ja die wirklichkeit nicht ab. aber woher diese idee von landleben wohl stammt?

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