Abschiedsessen

Ich kann es kaum glauben. Das Haus meiner Kindheit steht noch. Ich habe es nach über 40 Jahren wieder gefunden. Ohne Stadtplan und ohne nach dem Weg zu fragen. Der Garten ist jetzt gepflegt, die Strasse, eine Sackgasse, scheint kleiner als zur Zeit meiner Kindheit zu sein. Das Haus wirkt heute viel kleiner. Sonst ist alles wie damals, nur die Briefkästen sind neu. Und einen Namen kenne ich noch, einen Namen von früher. Die Haustüre steht offen, im ersten Stock drei Wohnungstüren, die mittlere war einst die Tür zu unserer Wohnung gewesen. Ein Guckloch wie damals, als ich noch auf einem Stuhl stehen musste, um nachzuschauen, wer auf der anderen Seite der Türe im Treppenhaus stand. Ich kann mich auf einmal an die Türkette erinnern, mit der wir immer die Wohnungstüre verriegeln mussten. Neu ist der blauweisse Kleber einer Bewachungsfirma direkt neben dem Türgriff: Ein Schäferhund neben einem Uniformierten und die Warnung. „Diese Wohnung ist bewacht und alarmgesichert“. Neu auch die Namen an den Glocken. Soll ich läuten? Ich weiss es nicht, ich kann mich nicht entscheiden. Soll ich sagen, ich hätte hier einst mit meinen Eltern gewohnt? Würde ich Fremden, die an meiner Tür läuten, die Wohnung zeigen? Soll ich einen Ausweis bereit halten? Soll ich den Grundriss der Wohnung aus meiner Erinnerung heraus beschreiben, um zu beweisen, dass ich wirklich einst hier gewohnt hatte? Aber was, wenn der Grundriss in der Zwischenzeit verändert worden ist. Ich unterlasse es, ich traue mich nicht. Vielleicht aber ist es eine andere Regung, die mich am Läuten hindert. Vielleicht will ich die Bilder von damals behalten, sie nicht wegschieben, nicht übermalen. Ich stehe vor der Wohnungstür im Haus meiner Kindheit, ich stehe da und habe Tränen in den Augen. Ich sehe das Wohn-Esszimmer, sehe uns beim Abendessen: Vater und Mutter, Grossvater, mein Onkel mit meine Tante sowie die Schwester meines Vaters und ihr Mann. Sie waren alle gekommen, um uns vor der grossen Reise zu verabschieden. Wie glücklich, wie erregt ich damals war. Morgen würde Vater abfliegen und zwei Tage später meine Mutter und ich mit dem Schiff abreisen. Ich sass neben Grossvater, ich war glücklich: In drei Tagen würden wir mit dem Schiff unterwegs sein. Ich war elf und noch nie auf einem so grossen Schiff gewesen, keiner meiner Mitschüler war je im Ausland gewesen, ich würde der erste sein, ich würde in einer Woche in Europa ankommen. Noch wusste ich nicht, wie grau Europa sein kann, wie regenreich und kalt. Noch wusste ich nicht, dass mich niemand dort würde verstehen können, noch war das Ausland so wie es in den Zeitschriften aussah: Schöne Autos, Schlösser, grosse Kirchen, Seen und Wälder. Noch ahnte ich nicht, wie ratlos ich in Europa in den Restaurants vor den Speisen sitzen würde: Speisen, die ich nicht kannte. Noch wusste ich nicht, dass ich in Restaurants nur Ravioli essen würde, weil mir alles andere fremd war. Keiner in meiner Klasse durfte wissen, dass ich nach den Osterferien nicht zur Schule kommen würde. Keiner meiner Spielgefährten in einem der Nachbarhäuser sollte erfahren, dass wir wegfuhren. „Wir machen lange Ferien, wir fahren für mehrere Monate weg“, hatte Mutter gesagt. Und ich wusste nicht, dass das Essen an diesem Abend ein Abschiedessen war, wusste nicht, dass nur meinem Onkel, meiner Tante und meinem Grossvater bekannt war, dass meine Eltern und ich nie wieder zurückkehren würden. Ich wusste damals nicht, dass wir weg mussten, weil Mutter einen Geliebten hatte und Vater mit einem Wegzug einen Neuanfang wagen wollte. Ich hatte zwei Bücher bereit gelegt, sie sollten mich auf der weiten Reise begleiten. Ich ahnte nicht, dass ich in Europa keine Bücher würde kaufen können, keine Bücher finden würde, die ich lesen könnte. Ich wusste noch nicht, wie sehr ich meine Schulkameraden vermissen würde. Noch sah ich mich nach drei Monaten zurückkommen. Ich würde dann meinen Freunden von Europa erzählen können, so wie meine Eltern es nach ihren Reisen jeweils gemacht hatten: Ich würde von Schlössern, alten Städten, hohen Bergen, grossen Wäldern und Wasserfällen und Seen berichten. Ich sass neben meinem Grossvater, alle erhoben die Weingläser und wünschten meinen Eltern und mir eine gute Reise und alles Gute in Europa. Und weil ich nur wenige Kleider für die Reise mitnehmen sollte, war ich überzeugt, dass ich nach drei Monaten wieder da sein würde. Wie angespannt, wie glücklich ich an dem Abend war: Ich durfte ins Ausland. Ich kann mich noch erinnern, dass ich dauernd glücklich lächelte und dass mir hinterher meine beiden Backen schmerzten.

Ich habe alle meine Schulfreunde verloren. Ich war nie wieder in der Wohnung, in der ich aufgewachsen war. Kein Brettspiel und kein Puzzle habe ich retten können, alle meine Bücher von damals sind verschwunden. Nach einem Jahr, nachdem mein Vater in Europa eine Anstellung gefunden hatte, liessen meine Eltern die Wohnung auflösen. Davon wusste ich lange nichts. Ich weiss nicht, was die Schulkameraden und die Kinder in der Nachbarschaft dachten. Ich war einfach nach den Osterferien nicht mehr da. Verschwunden. Weg. Über vierzig Jahre später stand ich wieder vor der Wohnungstüre und getraute mich nicht zu läuten.

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4 Antworten zu Abschiedsessen

  1. eva-maria sagt:

    Mit „friener“ (früher einmal…) fingen bei uns zu Hause viele Geschichten an. Besonders faszinierend fand ich dieses „früher“, weil es diese Zeit für mich noch gar nicht gab. „Früher“, das war etwas, das hatten nur die Erwachsenen. Was meine Eltern von „früher“ erzählten, das spielte zu einer Zeit, die ich nicht miterlebt hatte und die sich deutlich von der meinigen unterschied. Ich beneidete die Erwachsenen um dieses „früher“.

    Als ich den Kindergarten beendet hatte, sind wir von einer Kleinstadt im französisch sprechenden Kantonsteil in ein grösseres Dorf im deutsch sprechenden Kantonsteil umgezogen. Ich habe Freundinnen und Freunde aus den Augen verloren, das französische Ambiente und der Klang dieser Sprache, und alles war mir bekannt war. So schien mir jedenfalls. Und gleichzeitig entdeckte ich, dass ich nun auch zu jenen gehörte, die von „früher“ reden konnten. Ich hörte mich sagen: „Friener, als ich noch in der Stadt wohnte, da…“ Die erste Zeit fühlte sich dieses Wort ganz fremd in meinem Mund an. Ich war mir nicht sicher, ob ich es richtig gebrauchte. Denn mein „früher“ war nicht dasselbe „früher“ wie jenes der Erwachsenen.

  2. tiara sagt:

    Jour de fête

    Tous réunis autour de la table. Trois générations. Tous sur leur trente-et-un. L’atmosphère est à la gaieté, au plaisir. Le cousin tapote sur le clavier de son nouvel iPhone, l’oncle parle voitures avec l’un de ses neveux, la tante plaisante avec l’autre, fait des photos – ratées parce qu’il faut toujours qu’il y en ait un qui fasse une grimace – grand-mère aide son gendre à la cuisine, grand-père lit à haute voix le journal. Dernières catastrophes – les Chrétiens d’Orient sont en danger. Personne n’écoute vraiment, les catastrophes, les invasions, les meurtres, la grisaille du quotidien, tout ça banni. Pour un jour, une soirée, un repas. Eclats de voix et de rire, brouhaha auquel se mêlent le bruit du bouchon de champagne qui saute et le cliquetis des couverts.
    Elle, un peu tendue. Elle regarde sa montre, anxieuse de ne pas oublier le rendez-vous. En avance, toujours, sur l’heure convenue. Elle se lève et allume l’ordinateur, ouvre Skype, prend soin de brancher la caméra, attend, regarde sa montre. Sonnerie de téléphone, et elle est là, plein écran, belle, rieuse. On la voit, on l’entend. La communication est établie, en direct, synchrone.
    Branlebas de combat, bruits de chaises, appels: l’un après l’autre devant l’ordinateur. Questions, plaisanteries, exclamations, phrases banales. Comment vas-tu? Joyeux Noël! Où es-tu? Qu’est-ce que tu fais? Quand rentres-tu? Bonne année! Qui as-tu rencontré? Combien de temps restes-tu?
    Elle attend. Que tous l’aient saluée, aient échangé quelques mots avec elle. Et que se détende le nœud qui l’étouffe à la vue de sa fille, absente depuis plus de deux mois, à des milliers de kilomètres de là, dans un pays pour elle inconcevable.

  3. Ardito sagt:

    Immer mehr Menschen machen heute diese Erfahrung. Denn wir leben im Zeitalter einer unglaublichen Migration. Menschen trennen sich von ihrem Herkunftsort und müssen an einem anderen Ort Wurzeln schlagen. Und es kommt so häufig vor, dass Erwachsene ihren Kindern nicht mitteilen können, dass sie versuchen, die Heimat für immer zu verlassen. Die Kinder müssen stillhalten, weil manchmal die Auswanderung eine Flucht ist, von der niemand etwas erfahren darf.

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