Pillendöschen

Das Pillendöschen musste er stets bei sich haben. Andere tragen immer das Generalabonnement der Bahn mit sich oder eine Mastercard. Er hatte stets das runde Pillendöschen in der rechten Jackentasche. Beim Anziehen frühmorgens achtete er darauf, dass er das Pillendöschen nicht vergass. Und ging er zur Stosszeit durch die menschenvolle Bahnhofhalle oder stand er etwa abends in der Menschenschlange vor der Kinokasse, dann druckte er immer wieder leicht mit der Handfläche auf die rechte Jackentasche, damit ihm das Pillendöschen nicht gestohlen werde. Er wusste, dass man auf Pillendöschen achten muss. Sein Vater etwa hatte stets Pectoblok-Beta-Tabletten dabei, seitdem der Arzt bei ihm eine Angina pectoris diagnostiziert hatte. Und sein Bruder, zwar erst vierzigjährig, musste immer Dolo Buscopan forte bei sich haben, weil er ohne Schmerzmittel eine erneut auftretende Nierenkolik nur unter rasenden Schmerzen und Wehgeschrei überstanden hätte.

So hatte auch er sein Pillendöschen dabei. Fünf Kapselsorten lagen darin, von jeder Sorte zwei Stück. Sicherheitshalber. Zwei rotgrüne mit einem weissen Trennstrich in der Mitte und zwei rosafarbene Kapseln, zwei schwarz-orangene, zwei ganz weisse und zwei braune Kapseln, deren Hülle sich, so hatte er es auf dem Beipackzettel gelesen, im Magen auflöse. Und weil er die fünf verschiedenen Packungen nicht ständig mit sich führen konnte, hatte er die Anwendungsbereiche der einzelnen Pillen mehrmals sehr genau studiert und auswendig gelernt. Er wusste ganz genau, wann er die rot-grünen mit dem weissen Trennstrich nehmen müsste und wann die braunen. Und er wusste, dass diese Kapseln erst nach zwanzig Minuten zu wirken begannen, um nach etwa zwei Stunden in der Wirkung allmählich nachzulassen.

Er schaute auf die Uhr, sie zeigte zwanzig vor zehn an, kurz nach zehn Uhr erwartete er den Geschäftsbesuch aus Chicago, Geschäftspartner, die wichtig waren, immerhin ging es hier um einen Zwei-Millionen-Auftrag. Er legte die Dokumente für die Besprechung zurecht, fühlte eine leichte Unruhe in seiner Brust aufkommen. Doch, er würde es wieder schaffen, er hatte die Kapseln dabei, das gab ihm eine beruhigende Sicherheit. Jetzt ging er in die Toilette, stellte sich vor den Spiegel hin, band die Krawatte nochmals neu, kämmte sich nochmals, jetzt holte er das Pillendöschen aus der Jackentasche hervor, spürte ein leichtes Zittern in den Fingern, nahm mit Daumen und Zeigefinger eine braune Kapsel, die er auf die Zungenfläche legte, beugte sich zum Wasserhahn, nahm zwei Schlucke, fand das Wasser lauwarm. Jetzt war die Kapsel in seinem Körper, in zwanzig Minuten würde er englisch sprechen können, die Sprachkapsel mit 30 000 Worteinheiten amerikanischem Englisch würde ihre Wirkung zeigen. Er verliess die Toilette, ordnete nochmals seinen Schreibtisch, warf einen Blick in die Zeitung. Ja, er würde versuchen, noch mehr Geld für die Firma bei diesem Projekt herauszuholen. Jetzt läutete das Telefon, die Frau am Empfang teilte ihm mit, dass die Herren Peterson und Cooper von der Engelhard-Mining aus Chicago eingetroffen seien. Er verliess sein Büro, schritt zum Lift hinüber, fuhr ganz alleine in der Kabine hinunter, vergewisserte sich im Spiegel des Aufzugs nochmals, dass er wirklich gut aussah, jetzt öffnete sich die Lifttür, ja da vorne standen die beiden Herren mit ihren Attachécases, er ging auf sie zu, streckte zunächst dem älteren der beiden, es war Mike Cooper, die Hand entgegen und sagte :“Goede morgen mijnheer. Ik ben blij, dat U de vriendelijkheid hebt onze maatschapij te bezoeken. Ik zou graag vandaag mijn standpunt bepalen ten opzichte van bepaalde kwesties“. Mike Cooper sah ihn erstaunt an, jetzt begriff Abteilungsleiter Bethmann, dass etwas schreckliches passiert war. Wie er bloss die beiden Herren zwei Stunden lang beschäftigen konnte?

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2 Antworten zu Pillendöschen

  1. Beat Arnold sagt:

    Das müsste ich auch haben, wo bekommt man diese Pillen? Ich lerne seit einem Jahr an der Klubschule Spanisch und getraue mich nicht, ganze Sätze zu sprechen, wenn ich in Barcelona bin. Genial: Sprachlernpillen! Wie geht aber ein Farbenblinder mit solchen Pillen um? Dem kann ja genau das passieren, was da diesem Mann in der Geschichte passiert ist.

  2. ave airam sagt:

    Tja, da hätte der gute Herr Bethmann halt doch auf mich hören sollen. Neulich in der Apotheke haben wir kurz unsere Erfahrungen ausgetauscht. Er schwöre auf diese Kapseln, ich winkte ab. Wollte ihn für die Multilingualkapseln retard begeistern. Zugegeben, sie können es nicht mit den 30 000 Worteinheiten aufnehmen. Aber sie garantieren einen Grundwortschatz von 1000 Wörtern in den Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch. Für die Dauer eines Tages. Mindestens! Das reicht allemal um 80 – 90 % eines Textes zu verstehen und sich verständlich auszudrücken. Wenn ich ganz gut drauf sein muss, dann spritz ich mir zusätzlich noch ein wenig Adrenalin. Intravenös. Hab ich von einem Feuerwehrmann gelernt. Verdünnt mit Kochsalzlösung, im Verhältnis 1:9, bringt das meinen Kreislauf auf Hochtouren. Und mich auch. So dass ich spielend von einer Sprache in die andere wechsle. Achja, nächstens wird Multilingual Asia retard auf den Markt geworfen…

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