Hut tragen!

Ich stand in den Unterhosen da, weil der Assistenzarzt meine Haut untersuchen musste. Mit der Lupe schaute er sie sich ganz genau an. Dass er noch meine Lymphdrüsen in den Achselhöhlen und in der Leistengegend betasten würde, wusste ich von früheren Untersuchungen her. Einmal im Jahr kommt die schriftliche Aufforderung, mich zur Sprechstunde anzumelden. „Alles negativ. Also positiv“, sagte er und lächelte. Aber meine Kopfhaut wolle er noch der Oberärztin zeigen. Er setzte sich, um die Befunde zu tippen, rief das Sekretariat der Abteilung an, um die Oberärztin herbeizurufen und machte sich weiter am Computer zu schaffen. Ich sass da und wusste nicht, wohin ich schauen, was ich tun sollte. Fünf Minuten vergingen und der Assistenzarzt hatte all das geschrieben, was nach der kurzen Untersuchung zu schreiben war. „Wir warten nur noch etwas, es geht bestimmt nicht lange“, sagte er. Wieder machte er sich am Computer zu schaffen. Ich weiss nicht, ob er jetzt bei Facebook war oder sonst am Surfen. Es vergingen weitere 5 Minuten. Wir schauten uns etwas verlegen an. „Ich habe heute nicht meinen besten Tag“, sagte er, „ich bin nicht sehr gesprächig.“ Ich schwieg und wusste nicht, ob ich mich am Handy zu schaffen machen oder die Zeitung aus dem Rucksack herausholen sollte, um die Zeit bis zur Ankunft der Ärztin zu verkürzen. „Weshalb haben Sie einen schlechten Tag erwischt?“, fragte ich ihn. Nein, das könne er nicht sagen. Ob ich aus der Ostschweiz käme, lautete seine Frage. Wir wechselten einige knappe Sätze über Bern, seine Heimat, und über Zürich. Jetzt sass ich ihm schon seit fünfzehn Warteminuten gegenüber und die Oberärztin war immer noch nicht gekommen, um meine Kopfhaut in Augenschein zu nehmen. „Sie sollten unbedingt eine Kopfbedeckung tragen“. Weisser Hautkrebs sei zwar nicht gefährlich. Aber trotzdem. „Der weisse Hautkrebs wird gern als kosmetisches Problem oder Alterserscheinung abgetan. Dabei sollte man ihn ernst nehmen. Im schlimmsten Fall greift er sogar die Knochen an, oder es entstehen Ableger“, warnte er und fügte an: „Sie kommt bestimmt gleich“. „Lesen Sie gerne?“, fragte ich ihn. „Ich darf Ihnen gar nicht sagen, wann ich zum letzten Mal ein Buch gelesen habe, weshalb fragen Sie?“. Ich erzählte ihm von meiner Leseleidenschaft. Nein, er schaue sich lieber Wissenschaftssendungen am Fernsehen an. Als das Gespräch stockte, stand er auf, entschuldigte sich und verliess das kleine Ordinationszimmer, um die Oberärztin zu suchen. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und begann den Raum zu fotografieren. Nach drei oder vier Minuten kam er wieder, nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte eine vierstellige Nummer, ich hörte es Läuten, ein langes Läuten ohne Resultat. „Woody Allen würde unsere Situation jetzt filmen“, sagte ich dem Assistenzarzt. Ob er Filme von Woody Allen kenne. Nein, aber seine Mutter hätte den letzten gesehen. Ich schaute auf meine Uhr. Seit einer halben Stunde warteten wir auf die Oberärztin. Jetzt wählte er eine andere Nummer, ich hörte eine Männerstimme auf der anderen Seite. Er erkundigte sich in Französisch, ob die Oberärztin ihn wohl vergessen hätte. Weiter warten. „Sie sind weit in der Welt herumgekommen“, meinte er, worauf ich relativierte, denn ich war noch nie in Afrika und in Lateinamerika gewesen, geschweige denn in Australien oder in Fernost. „Es tut mir leid“ sagte er, „das kommt sonst wirklich nicht vor, dass man in unserer Klinik so lange warten muss.“ Jetzt sass ich ihm schon seit dreissig Minuten gegenüber. Ich begann meine Mails abzurufen. Und ich nehme an, dass er das auch tat. „Wie lange soll ich noch warten“, fragte ich ungeduldig. Er wusste es nicht. Er stand auf. „Ich suche sie nochmals“. Wieder blieb ich alleine im Behandlungszimmer. Zehn Minuten vergingen, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand auf, öffnete die Tür, ging die Treppe zum Ausgang hinunter. Draussen vor der Klinik stand er neben dem Zierbrunnen und rauchte eine Zigarette. „Auf Wiedersehen“ rief er mir zu, „so etwas kommt bei uns wirklich nicht oft vor. Und vergessen Sie nicht, einen Hut oder eine Mütze zu tragen“.

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