Messerbänkchen

Weisse Morgenmäntel mit den Initialen des Hotels, Frottétücher mit dem gestickten Namen des Hauses, Teller mit dem Signet und Besteck mit dem eingravierten Namen des Restaurants: Andere klauen sie, meine Grossmutter aber liess sie alle dort, wo sie hingehörten. Und doch klaute sie genauso wie andere auch. In Hotels, in Restaurants und auf Kreuzfahrten packte sie Sachen ein, liess sie mitlaufen. Sie war Spezialistin. Grossmutter legte sich mit den Jahren eine Sammlung von Messerbänkchen an, jenen seltsamen kleinen Brücken, niemals länger als ein Ringfinger, meistens aus Silber oder aus Porzellan oder Glas, die dazu dienen, das benutzte Essbesteck abzulegen, um den Teller frei zu haben und den Tisch, das Tischtuch oder andere Unterlagen nicht zu beschmutzen. „Auf Italienisch gibt es diesen Begriff nicht“, sagte sie. „Die essen bloss Pizza und Teigwaren, die italienische Küche ist nun mal nicht sehr verfeinert, die brauchen keine Messerbänkchen. Dafür dass es den englischen Ausdruck „Knife-rest“ gibt, konnte sie keine Erklärung liefern, wo doch die englische Küche aus ihrer Sicht nichts Gutes hervorgebracht hatte. „Porte-couteau“, sagen die Franzosen, erläuterte sie. „Und auch die Holländer kennen die Messerbänkchen, sie nennen sie ‚Messlegger’“. Die Sprache sei ein Spiegelbild der Tafelkultur, davon war Grossmutter, die in einem grossbürgerlichen Haus in Deutschland aufgewachsen war, überzeugt. Dass Grossmutter diese Ausdrücke kannte, hatte damit zu tun, dass sie Messerbänkchen sammelte wie andere Katzen aus Porzellan. Keine Ahnung weshalb sie das tat. Denn nur selten kamen Gäste zu ihr zum Essen. Und besonders gut kochen konnte sie nicht. Dabei hätte sie eine grosse Festgesellschaft mit Messerbänkchen ausstatten können. Sie kaufte sie auf ihren Reisen ein und sie klaute sie mit System in vornehmen Hotels und Restaurants. Messerbänkchen aus Kristall, Porzellan und Silberimitat in Form von langgestreckten Dackeln, Hasen, Füchsen: In einer Vitrine in ihrem Wohnzimmer lagen sie. Und sie putzte sie regelmässig, behandelte die echt silbrigen mit Respekt und Sigolin. „Die Bestecke müssen auf dem Messerbänkchen ungefähr an der Stelle liegen, an welcher der Griff in die Klinge beziehungsweise den Essteil von Löffel und Gabel übergehen, wobei das Griffende auf dem Tisch ruht und der Vorderteil über die Messerbänkchen hinaus in die Luft ragen muss“. Dieser handgeschriebene Satz stand auf einem vergilbten Zettel, den wir nach ihrem Tod mitsamt den über hundert Messerbänkchen in einen Abfallcontainer kippten. Weshalb sollen wir diese Messerbänkchen aufbewahren, fragte meine Frau, sie nehmen nur Platz weg und wir haben ohnehin kein passendes vornehmes Besteck.

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2 Antworten zu Messerbänkchen

  1. Hansjörg H sagt:

    Ich habe heute in deinem Blog geschmöckert. Du bist sehr produktiv. Wunderbare Texte im Wochenrhythmus publiziert! Ich werde dich von nun an öfters besuchen. Hansjörg H.

  2. Regula Ehrliholzer sagt:

    Er hat sie nicht alle weggeworfen. Ein besonders elegantes hat er sich aufgehoben, unbemerkt eingesteckt. Er drapiert es jedes Jahr einmal nur unter das rostfreie Edelstahlmesser und erinnert sich dabei der wahrlich enzyklopädischen Anweisung, die seine Grossmutter auf dem Zettel hinterlassen hat. Die seltsame Anordnung des Geschirrs auf und um das passend zur Farbe des Tischblattes ausgewählte Tischset rührt daher, dass er diese Zusammenstellung fotografieren möchte, die Lichtverhältnisse sollen stimmen für die Aufnahme, das Messerbänkchen in dem stimmigen Abendlicht besonders schön zur Geltung kommen. Mit dem Messer schaufelt er ein wenig später die kleinen Karottenstücke auf die Gabel, drückt sachte ein Broccoliröschen in zwei Hälften, es ist ein Werkzeug, das der Gabel zuhilft. Auf dem Teller befindet sich aber auch ein rechtes Stück Fleisch, und geht es ans Fleisch, wird mit dem Instrument richtig gesäbelt, Fasern werden zerschnitten, mit Kraft wird gesägt. Es ginge gar nicht anders. Als er langsam das Zerteilte mit dem Gabel zum Mund führt, das Messer zurück auf das Bänkchen legt, fragt er sich, Messerbänkchen, … die Verniedlichungsform von Schlachtbank? Es wird das letzte Mal sein, dass er das Bänkchen hervorgeholt hat, auch dieses Exemplar landet im Abfalleimer. Der nur kurze Gedanke, eine Wortspielerei, eine Wortmurkserei vielmehr, hervorgebracht durch das Messer und das zähe noch halbrohe Stück Fleisch, das er sich da gekocht hat, haben ihn zu sehr verwirrt. Gut hat er das Objekt kultivierter Essvorstellungen fotografiert, nun ist auch dieses Exemplar weg. Noch am selben Abend setzt er sich an den Computer und vervollständigt den Wikipedia-Eintrag zum Thema „Messerbänkchen“ mit der Anweisung, die er auf dem Zettel gefunden hat. Diesen Text allerdings kann er nur noch aus der Erinnerung rekonstruieren. Also, Vorsicht mit solchen Einträgen …

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