Von links nach rechts

Zwei Tage vor Ausstellungsbeginn waren sie immer noch nicht so weit. Das war schon immer so gewesen. Bei jeder Ausstellung gab es das, was die Kuratoren „Ausstellungsmarathon“ nennen: Alle Vitrinen sind schon da, nicht aber alle Objekte an ihrem Platz. Die freiberuflichen Museumsführer, die jeweils vom ersten Tag einer Ausstellung an für ihre Rundgänge bereit sein müssen, werden immer am Tag vor der Eröffnung in kleinen Gruppen geprüft, sie müssen zu einzelnen Objekten, die immer noch nicht in den Vitrinen zu sehen sind, Erläuterungen abgeben, Geschichten erzählen. Sechzig Minuten soll eine Führung dauern, bis zu zehn Objekte darf sie umfassen, anschliessend sollen die Besucher dazu aufgefordert werden, noch im Museum zu verweilen und sich die Ausstellung genauer anzuschauen.

„Dieser Stein wurde errichtet zum Haupt von Frau Segal“ lautete das Grabsteinfragment. Den Satz aus den Unterlagen hatte er auswendig gelernt, der Stein aber war zwei Tage vor der Ausstellungseröffnung immer noch nicht an seinem vorgesehenen Ort angekommen. Seine Objekte wählte er sich in den Unterlagenblättern, die den Führern zur Verfügung gestellt wurden. Unangenehm war bloss, dass man nie genau wissen konnten, wie gross die zu erläuternden Objekte sein werden. Und so kam es manchmal vor, dass sie bei ihrer ersten Führung von der Kleinheit oder von der Grösse eines Objektes überrascht wurden, zu dem sie ihre Erläuterungen vortrugen. Immerhin konnte er sich aber vorstellen, wie gross ein Grabstein sein könnte, wusste auch, dass es sich um Sandstein mit Kalkmörtelspuren handelte. Er lernte auswendig: „Dieses Grabsteinfragment ist eines von sieben seiner Art, die von 1994 an bei Bauarbeiten im Zuge der Stadtsanierung entdeckt wurden. Das ausgestellte Fragment stammt aus dem Hinterhaus Talstrasse 92. Das Gebäude muss sich unmittelbar am Rande des mittelalterlichen Judenfriedhofs befunden haben“. Sechs Monate lang dauerte die Ausstellung, jede Woche blieb er mit Gruppen vor der Vitrine stehen und fuhr langsam mit der Hand am Vitrinenglas entlang von links nach rechts beim Vorlesen des hebräischen Textes, den er aber in deutsch vortrug: . „Dieser Stein wurde errichtet zum Haupt von Frau Segal“.

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Eine Antwort zu Von links nach rechts

  1. Regula Ehrliholzer sagt:

    von links nach rechts: Eine Nachlässigkeit oder eine Übertragung in den kulturellen Kontext? Er hat nicht nur auswendig gelernt, der Schilderung entnehme ich, er hat sich vorbereitet, so gut es halt ging. Er weiss, was er tut, wenn er die Sätze vorträgt. Die Frage ist, welcher Grad der Übertragung ist angebracht. Es gibt kein eins zu eins.

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