Stolz

Vor uns geht der Mann mit der Hotelmütze und mit der grünen Schürze. Und er trägt unser ganzes Gepäck. Wie er das schafft, weiss ich nicht. An jeder Hand ein schwerer Koffer, die Taschen kraftvoll eingeklemmt zwischen Oberarm und Oberkörper. Zunächst das Zimmer meiner Eltern mit Doppelbett und Balkon, mit Badezimmer und Toilette und einem grossen Spiegelschrank. Und nachdem er ihr Gepäck im Zimmer abgestellt hat, sagt er etwas in seiner Sprache, die ich nicht verstehe, weist gleichzeitig mit dem Finger auf mich und zum Gang hin. Dann steige ich hinter ihm her die steile Treppe zum nächsten Stockwerk hinauf und komme in das allererste Hotelzimmer meines Lebens. Ich bin aufgeregt, als er den Schlüssel geräuschvoll dreht, und ich betrete ein enges Zimmer, das nur über ein Oberlicht verfügt. Ein Bett, eine Kommode, keine Waschschüssel, keine eigene Toilette, keine Aussicht auf die Strasse oder auf eine gegenüberliegende Häuserzeile. Der Mann mit der Hotelmütze gibt mir mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich ihm folgen solle. Wir gehen bis zum Ende eines Korridors, wo er die Tür zu einer Toilette öffnet, in der sich auch eine Waschgelegenheit befindet.

Hier soll ich mich also waschen. Erst als ich nach dem Abendessen wieder in meinem Zimmer bin, realisiere ich, dass sich die Tür von innen nicht abschliessen lässt. Ich schiebe den Nachttisch vor die Zimmertür, will mir eine Sicherheit für die Nacht verschaffen. Und beim Ausprobieren dieser Barrikade bemerke ich, dass sich die Zimmertür nach aussen hin öffnet, meine Schutzvorrichtung also sinnlos ist. Bei jedem Geräusch im Gang erschrecke ich. Ich kann in dieser Nacht kein Auge zutun. Mein Vater hatte gesagt, ich solle stolz darauf sein, in einem eigenen Hotelzimmer übernachten zu dürfen. Ich aber habe Angst, weil hier einer hineinkommen und mich packen könnte. Und meine Eltern würden mich nicht hören. Und keiner würde mich hier verstehen. Und in dieser fremden Stadt, meiner ersten Stadt im Ausland, würde ich mich nicht zurechtfinden. Sie könnten mich stehlen, ich habe Geschichten von verkauften Kindern gehört. Ich habe diese Angst in Hotelzimmern nie mehr ablegen können, auch wenn sich die Hotelzimmertür mit einem zusätzlichen Riegel verschliessen lässt. Irgendwann schlafe ich über der Zeitung oder mit dem Buch in der Hand ein, das Licht bleibt an, der Schlaf ist kurz, ich bin am nächsten Tag stets übermüdet.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Stolz

  1. emmi sagt:

    „Einer könnte hinein kommen und mich packen.
    Jemand könnte mich stehlen.“

    Wie spürbar sie ist, diese Angst.

    Als ich zehn war, bin ich zum Wohnzimmer geschlichen, um verborgen einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen. Aktenzeichen XY lief, mit einem Beitrag über einen Kinderentführer. In einem grauen VW Käfer hat er auf seine ahnungslosen Opfer gewartet. Schnell die Tür geöffnet und nach den Kindern gepackt.
    Dieses Modell von VW gibt es heute fast nicht mehr. Doch ich beschleunige immer noch meinen Schritt, wenn ich einen ähnlichen entdecke. Und freiwillig würde ich nie in einen solchen Wagen steigen.

  2. Claude Dieudé sagt:

    Chaque année, elle revient avec le printemps. Elle s’en souvient, c’était bien un 21 mars. Ils avaient dormi dans un hôtel situé en plein centre-ville. N’ayant rien réservé, ils avaient accepté la chambre que leur proposait le service de location de la gare, la «Deluxe Room». Ils avaient ri en voyant le décor grandiloquent, style Louis Toujours revu design: la tapisserie à grande rayures beiges, la tête de lit aux motifs grand siècle dans un marron plus sombre, les appliques dans le même ton, la salle de bain au miroir encadré de rocailles dorées, la vasque et la baignoire aux lignes pures, dernier cri, les grands rideaux tombant en ruchés nonchalants jusqu’au sol. La fenêtre s’ouvrait sur un petit jardin, mais on voyait la Tour Eiffel. Dans l’escalier blanc, aux murs ornés de stucs, il l’avait embrassée. Quatre nuits dans un hôtel quatre étoiles, une étoile par nuit. Elle s’en souvient, c’était le début du printemps, le vent était froid, mais les bourgeons s’ouvraient, les oiseaux s’affairaient déjà, le ciel avait un bleu d’espérance, et elle s’enivrait de la légèreté des jours. Ils parcouraient la ville en tous sens, alignant les kilomètres.
    Assise sur le lit, elle se souvient. D’une année sur l’autre, elle réserve depuis la «Deluxe». Le portier et le réceptionniste la reconnaissent, elle sent leurs regards ironiques dans son dos. Ou peut-être est-ce de la pitié. Au début, elle réservait pour quatre nuits, puis trois, puis deux. Et aujourd’hui, c’est une seule nuit, celle du 21 mars, les prix ont trop augmenté. Elle salue les meubles un à un, les palpe, ses doigts effleurant les surfaces, rayées et blessées par toutes les mains qui les utilisent, indifférentes. Elle leur parle aussi. De sa vie surtout. Et elle leur demande s’ils se souviennent de son amour de quatre nuits. Claude Dieudé

  3. ist dein projekt, das du verfolgst, neue texte zu schrieben und hochzuladen? Fast jeden tag? ein unternehmen, das doch anstrengend ist! und was, wenn dir nichts einfällt? diese geschichte ’stolz‘ hier kenne ich doch gut. … du hast sie doch schon mehrfach publiziert.. kommt sie immer wieder neu hoch?

    • michael guggenheimer sagt:

      nein, nicht jeden tag. zweimal die woche, wenn es gut geht. und auch dieses ziel schaffe ich nicht immer. das hängt in der regel von den anderen aktivitäten ab. gegen neunzig texte liegen vor, ein jahr her ist’s, als ich beschloss einen blog zu installieren. keine tagesaktualitäten sollten es sein. auch nicht eine innere befindlichkeitsschau. erzählen will ich. gefundenes und erfundenes. manchmal passte ein text von früher, der adaptiert werden musste. er passte zu einem anderen text im blog. dreimal oder viermal bloss habe ich zu vorhandenem gegriffen. morgen ist’s ein jahr her, seitdem ich diesen blog eingerichtet und eröffnet habe.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert