Alarmkarte

Als am Mittwoch in der ganzen Schweiz um 13.30 Uhr die Sirenen wieder zu jaulen begannen, war Naomi gewarnt. Naomi ist Fotografin, sie lebt in Israel nahe der Grenze, und sie weilte für eine Woche in Zürich zu Gesprächen mit ihrer Galeristin. Ich rief Naomi eine halbe Stunde vor dem nationalen Sirenentest an, nachdem mir ein junger Mann im Shoppingbereich des Zürcher Hauptbahnhofs eine Karte des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz in der Grösse einer Kreditkarte in die Hand drückte. Ich muss Naomi warnen, war mein erster Gedanke, denn Naomi würde in Panik geraten, wenn sie in der friedlichen Schweiz plötzlich die Alarmsirenen jaulen hören würde. In Israel, das hatte sie mir einmal erzählt, bedeute ein Sirenenalarm, dass man sich sofort in den Schutzraum begeben muss, weil in wenigen Sekunden schon eine Rakete landen und detonieren könnte. „Wirklich sofort!“ wiederholte sie. Ich kenne diese Unterstände in Israel: Ich war schon zugegen, als in einem Kibbutz im Norden des Landes die Sirenen einen unangenehmen auf- und abschwellenden Alarmton gaben und sich die Menschen von allen Richtungen her zum betonierten Eingangsbereich einer unterirdischen Schutzanlage begaben, der sie alle innerhalb von wenigen Minuten zu schlucken schien. Und ich kenne die kleinen Tafeln, die an Strommasten in Tel Aviv mit einem Pfeil und mit dem hebräischen Ausdruck „Miklat Tsiburi“ auf die öffentlichen Schutzräume hinweisen. Ich habe die Alarmkarte vom Schweizer Bundesamt für Bevölkerungsschutz studiert und kenne jetzt den Unterschied zwischen Wasseralarm und allgemeinem Alarm. Die Karte liegt irgendwo in einer der Schubladen meines Schreibtischs und ich bin froh, in der Schweiz zu leben, wo der Sirenenalarm nur ein Mal im Jahr erklingt und bereits Tage im voraus in den Zeitungen und im Radio immer wieder auf den kommenden Sirenenalarm hingewiesen wird. Ich weiss, dass es sich bloss um einen Probealarm handelt. Und ich glaube nicht, dass ein Nachbarstaat oder gar die USA aus Ärger über die Schweizer Banken die Schweiz militärisch angreifen würden. Irgendwann werde ich die Alarmkarte wegwerfen, denn in den Schubladen meines Schreibtisches wimmelt es von Kunden-, Treue-, Kreditkarten und anderen Ausweisen. Als ich eine Ausländerin, die erst seit kurzem in der Schweiz lebt, etwa eine halbe Stunde nach dem letzten Alarm gefragt habe, ob sie die Sirenen gehört habe, sagte sie: „Klar. Ich müsste ja taub sein. Bin froh mich hier gesichert fühlen zu können. Bin ja auch kein Nummernkonto, muss deshalb keine Angst haben“.

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