Reiseführer (2)

„Du kannst jederzeit bei mir wohnen. Und du kannst auch jemanden mitbringen.“ Mr. Dutton wusste, wie teuer Übernachtungen in der englischen Hauptstadt sind. Ich war in zweifacher Hinsicht über sein Angebot froh: Für einmal nicht in einem Hotelzimmer wohnen zu müssen. Viel versprechend auch die Möglichkeit, einen Engländer bei sich zu Hause zu erleben. Wir würden Mr. Dutton dafür zum Essen einladen, zudem ein Geschenk aus der Schweiz mitbringen. Ich wusste, wie sehr er Schweizer Schokolade mochte. Wie zentral seine Wohnung liegt, entnahmen wir dem Stadtplan, die Queens Gardens mussten eine kleine ruhige Strasse sein. Mr. Dutton holte uns am Bahnhof ab, er führte uns von einer Untergrundbahnlinie zur nächsten, bereits eine knappe halbe Stunde nach der Ankunft am Bahnhof öffnete er die Tür zu seiner Dreizimmerwohnung im dritten Stockwerk eines typischen Londoner Reihenhauses. Wir wussten, dass Mr. Dutton ein Büchersammler ist. Aber wir ahnten nicht, dass eine Wohnung so voll von Büchern sein kann: Wir sahen Büchergestelle an allen Wänden, Bücher vom Boden bis zur Decke. Bücher lagen auf den Tischen, auf den Böden, auf den Fenstersimsen, auf den Stühlen, Bücherstapel sogar auf dem Küchentisch und auf dem Kühlschrank, Bücher an beiden Wänden im Korridor zwischen den beiden strassenseitigen Zimmern und dem Gästezimmer auf der Hofseite. Im Gästezimmer Bücher überall, sie bildeten kniehohe Türme auf dem Boden, sie lagerten auf dem Tisch und auf den beiden Stühlen, das Doppelbett war voller Bücher, der Kleiderschrank nicht zu gebrauchen, weil voll von Büchern und vergilbten Zeitungen. Wir stellten die beiden Rucksäcke vorsichtig auf Bücher hin, weil wir sonst nirgendwo eine freie Ablagefläche fanden, verliessen kurz darauf gemeinsam mit Mr. Dutton die Wohnung und liessen uns in ein indisches Restaurant führen. Auf unsere Fragen nach seinen Büchern erzählte er, wie er jedes Wochenende auf der Suche nach Büchern sei: Der Zweite Weltkrieg, der Krimkrieg, die Blockade Englands zu Zeiten Napoleons, die Entdeckung Lateinamerikas, Cooks Schiffsreisen, der Mittlere Osten seit der Zeit der Ottomanen bis zum Suezkrieg, die chinesische Revolution, die Suche nach der Nordwestpassage, der Aufstieg der USA, Stalins Verbrechen, die Geschichte der Fotografie: Nichts schien den Mann, der seit über 30 Jahren bei einer Bank Buchhalter war, nicht zu interessieren. Und weil er einige Jahre in Hamburg verbracht hatte, kehrte er von Reisen auf den Kontinent stets mit deutschsprachigen Büchern nach London zurück. Bath und Warwick, York und Leeds schienen über die besten Antiquariate Englands zu verfügen, seine regelmässigen Wochendausflüge glichen Beutezügen auf der Suche nach neuen Bänden. Es war schon dunkel, als wir vom indischen Restaurant in seiner Wohnung ankamen. Mr. Dutton begleitete uns in das Gästezimmer, um das Gästebett von seiner Bücherlast zu befreien, wir hatten unsere Schlafsäcke dabei, konnten sie aber noch nicht auf dem Doppelbett ausbreiten, weil zunächst die Bücherberge entfernt werden mussten. Mr. Dutton begann die Bücher vom Bett zu nehmen, entdeckte immer wieder Exemplare, zu denen es jedes Mal etwas zu erzählen gab. Wir realisierten erst jetzt, dass das Bett die Lagerstätte von alten Baedeker Reiseführern und von alten Guides bleus war, alles Erstausgaben. Wir konnten nicht ahnen, dass Mr. Dutton diese Reiseführer seit Jahren mit System und Ausdauer sammelte. Er nahm die Bücher vorsichtig zur Hand und begann, uns Stellen aus Reiseführern aus dem 19. Jahrhundert vorzulesen, wir mussten uns nach Mitternacht anhören, wie Karl Baedeker Küsnacht am Rigi, Amden am Walensee, Locarno oder die Stiftskirche von St.Gallen beschrieben hatte. Dann erläuterte er uns anhand der rot eingebundenen Bücher, dass sich alle diese Bände durch eine systematische Gliederung des Inhalts in drei Teile, nämlich in „allgemeine Übersicht“, detaillierte Beschreibung aller „Merkwürdigkeiten“ und „praktische Hinweise“ kennzeichnen, eine Gliederung, die bis heute so geblieben sei. Es wurde immer später, wir wurden immer müder, Mr.Dutton aber wurde immer gesprächiger, las uns gegen ein Uhr morgens Passagen über Bozen und Meran aus dem alten Reiseführer „Süd-Tirol mit Dolomiten“ vor, ebenfalls eine Erstausgabe, um uns dann auf seine leider nicht vollständige Sammlung von Erstausgaben von John Murrays „Red Books“ aufmerksam zu machen, die noch älter seien als Karl Baedekers Reiseführer mit ihrer „markanten Goldprägung“. Kurz vor zwei Uhr morgens merkte Mr. Dutton, wie müde wir waren und beschloss die Führung durch die Welt der Reiseführer auf den kommenden Abend zu vertagen, wir konnten endlich unsere Schlafsäcke auf dem Gästebett ausbreiten, unsere Kleider legten wir auf die gesammelten Bände der Geschichte von niederländisch Ostindien, die Fenster konnten wir nicht öffnen, weil sich uns Bücher in den Weg stellten. Wir husteten während der ganzen Nacht, wohl weil wir uns einbildeten, Bücherstaub einzuatmen. Als wir uns kurz nach sieben Uhr früh müde zum Badzimmer begaben, stellten wir fest, dass unser Gastsgeber seine Wohnung bereits verlassen hatte. In der Küche lag ein Zettel mit Empfehlungen für ein Besichtigungsprogramm in London und mit Adressen von zwei Antiquariaten in der Nähe, die schon vor 9 Uhr morgens offen seien. Frische Brötchen sollten wir uns in der Bäckerei an der Ecke holen, Butter und Marmelade seien im Kühlschrank, abends würde er mit uns einen Spaziergang durch Bayswater unternehmen. Es bedurfte nicht einmal einer Diskussion, um uns klar darüber zu werden, dass wir beide keine weitere Nacht zwischen Bücherbergen verbringen wollten. „Haben uns kurzfristig entschlossen, nach Norden weiterzufahren, ganz herzlichen Dank für die Gastfreundschaft“ schrieben wir auf einen Zettel, den wir auf den Küchentisch hinlegten. Wir waren bereit, Geld für ein Hotelzimmer auszugeben, egal wie klein dieses Zimmer und wie hoch der Zimmerpreis sein würde. Und wir hofften, Mr. Dutton in den kommenden Tagen nicht irgendwo in London zu begegnen.

(im kino derzeit keinesfalls verpassen: „messies“, der neue dokfilm des schweizer filmers ulrich grossenbacher!)

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