Safe

Die kleine Frau starb mit fünfundsiebzig Jahren. Ihren Mann, einen Schweizer Manager, hatte sie in den 50er Jahren in Bolivien kennengelernt. Sie heirateten dort, ein Jahr später schon kehrte sie ihrer Heimat den Rücken, weil es sich seiner Ansicht nach dort doch nicht so gut lebte. In Europa wurde sie nie heimisch. Man sah ihr die südamerikanische Vergangenheit ebenso an wie ihr Heimweh. Seine Freunde wurden ihre Bekannte. Sie selbst hatte keinen eigenen Freundeskreis, sie liess sich durch die Kammern seines Lebens führen. Sie zierte ihn, sie blieb die Exotin an seiner Seite. Kinder hatten sie keine. Es gab nur ihn, auf den sie Tag für Tag wartete. Sie verliess das Haus nur zum Einkaufen. Mit der Zeit fand sie sich in der Welt der Einkaufsstrassen und Selbstbedienungsläden zurecht, wo Sprachkenntnisse nicht wichtig waren. Er sprach Spanisch mit ihr, sie konnte sich ein wenig auch auf Englisch ausdrücken, die deutsche Sprache blieb ihr fremd. Seine Freunde gewöhnten sich an die wortkarge und immer freundlich dreinblickende Frau. Nie war sie in all den Jahren nach Bolivien zurückgekehrt. Als er starb, überlebte sie ihn um wenige Wochen nur, wahrscheinlich konnte sie sich in einer Welt ohne ihn nicht mehr zurechtfinden. Es gab keine Erben, aber eine Wohnung, die aufgelöst werden musste. Der Safeschlüssel in ihrer Nachttischschublade wurde unter notarieller Aufsicht zur Bank gebracht. Sechs Briefumschläge fand der Notar vor. Auf jedem Umschlag der Name und die Adresse von Menschen in Bolivien. Und jedes Couvert enthielt Geldnoten, hohe Beträge in der Währung ihrer ehemaligen Heimat. Geld, das sie Freunden von früher während Jahren zur Seite gelegt haben musste, Geld einer längst abgeschafften Währung, wertlos geworden, für die sich nicht einmal die Münzenhandlung mehr interessierte.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Safe

  1. Ruth Erat sagt:

    Sie, die in der Fremde niemals lachte, brachte dem Notar in mächtigen Umschlägen
    wertlos gewordene Geldscheine, die Währung ihrer eigenen Heimat,
    in der sie selbst nie mehr besessen hatte, als ihr eigenes Lachen.

  2. Ada Josephine sagt:

    So zart und berührend. Ich konnte förmlich die angeschriebenen Kuverts sehen. Und dann die Banknoten. an denen sich diese Frau vielleicht am Leben erhielt. Im Gedanken, dass sie damit lieben Verwandten und Freunden Gutes tun kann. Und dann ist plöztlich alles nur mehr Papier. Wie Wichtigkeiten sich auflösen, wenn man nicht mehr da.

Schreibe einen Kommentar zu Ada Josephine Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert