Valeriusstraat

Wir nannten sie „Juffrouw Godvliet“. Ihr Vorname lautete Ans, aber ich habe nie an sie als Ans gedacht. Juffrouw Godvliet war in meinen Augen alt. Immer schon. Als sie starb, war sie höchstens 72. Kennen gelernt haben wir sie, als ich elf Jahre alt und sie etwa 60 war. Vater hatte eine Stelle in Amsterdam gefunden, aber keine Wohnung. Die stark reglementierte Politik der Wohnungsvergaben sah damals nicht vor, dass ein ausländischer Angestellter eine Wohnung erhalten sollte. Ich weiss nicht, wie meine Eltern auf Juffrouw Godvliet gestossen sind. Juffrouw Godvliet war ein Glücksfall. Ganz alleine bewohnte sie ein dreistöckiges Backsteinhaus im Stadtteil Oud Zuid in der Nähe des Vondelparks. Die Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stockwerk waren möbliert und seit langem unbewohnt: Ein Salon, ein Esszimmer , ein Elternschlafzimmer mit Balkon zum Hinterhof, die Küche, ein Badzimmer mit Toilette. Im ersten Stock zwei weitere Zimmer, eines wurde mein Zimmer, ein zweites wurde Vaters Büro. Juffrouw Godvliet wohnte im zweiten Stockwerk: Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Bad sowie die Küche. Kam sie nach Hause oder verliess sie ihre Wohnung, ging sie an unseren Zimmern vorbei und benutzte sie die gemeinsame Treppe. Und so konnte es passieren, dass sie uns in unseren Wohnräumen antraf. Wir gewöhnten uns deshalb daran, die Zimmertüren stets zu schliessen, denn Juffrouw Godvliet musste uns nicht unbedingt im Pyjama oder im Bad sehen, wenn sie dem Korridor entlang zur Haustüre ging. Das Haus an der Valeriusstraat gehörte ihr nicht. Juffrouw Godvliet war das Kindermädchen gewesen, das einst ein Zimmer im Dachgeschoss dieses Hauses bewohnt hatte. Josef und Emma Jelinek waren die Besitzer des Hauses an der Valeriusstraat. Wir zogen 1957 in das Haus der Jelineks, die seit 1944 als vermisst galten. Und die Juffrouw Godvliet seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich weiss heute nicht mehr, wer die Verfügung erlassen hatte, wonach Juffrouw Godvliet im Hause Jelinek bleiben durfte. Sie blieb und sie wartete. Sie wartete und glaubte fest an eine Rückkehr, die nie mehr eintreten sollte, die nicht erfolgen konnte. Die Jelineks waren von deutschen Soldaten oder Polizisten in Amsterdam aufgegriffen worden, sie wurden über das Sammellager Vucht in den Osten verschleppt. Bergen Belsen? Maidanek? Auschwitz? Ich weiss es nicht. Als ob sie gerade vor wenigen Tagen ihr Haus verlassen hätten, so sah die Wohnung der Jelineks 1957 aus, als meine Eltern sie besichtigen konnten. In der Abmachung, die Juffrouw Godvliet und meine Eltern unterschrieben hatten, stand zu lesen, dass wir im Falle einer Rückkehr der Jelineks die Wohnung zu verlassen hätten. Fünf Jahre haben wir an der Valeriusstraat gewohnt bis mein Vater von seiner Firma versetzt wurde. Wir benutzten Jelineks Strassburger Service, wir schliefen in ihren Betten, Mutter kochte in ihrer Küche als ob das vollkommen normal wäre, im Büchergestell im Salon standen die Bücher der Familie Jelinek. Ich kann mich sogar noch gut an jenes Gestell im Keller erinnern, in dem die Jelineks früher Seife, Stärke, Zucker, Salz und getrocknete Äpfel aufbewahrt haben mussten. Viele Jahre später habe ich auf einer Radfahrt durch Holland wieder ein solches Gestell gesehen und fotografieret. Juffrouw Godvliet hatte mit uns eine jüdische Ersatzfamilie gefunden und ich eine niederländische Ersatzgrossmutter. Ich kann mich noch an einen Besuch von Juffrouw Godvliet nach unserem Umzug bei uns in der Schweiz erinnern. Axenstrasse – Gotthardpass – Lugano: Diese Fahrt hatte sie vor dem Krieg als Kindermädchen mit der Familie Jelinek unternommen. Diese Fahrt musste in den 60er Jahren wiederholt werden, diesmal aber in Begleitung meiner Eltern als Ersatz für die Jelineks, die auch einen Sohn hatten, der ebenso wie ich Michael geheissen hatte.

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3 Antworten zu Valeriusstraat

  1. kh sagt:

    Diese anrührende Geschichte ist sehr gut erzählt. Ist sie ein Stück der eigenen Biografie? kh

  2. Lettramix sagt:

    Kindermädchen

    ‚Diese anrührende Geschichte ist sehr gut erzählt. Ist sie ein Stück der eigenen Biografie?’
    K.H. hatte das unter eine seiner Geschichten gesetzt, die er drei Mal die Woche in seinem Blog veröffentlichte. Ein anstrengendes Unternehmen. Aber er musste durchhalten. Es ging schliesslich um eine Wette, auf der viel auf dem Spiel stand. ‚Kein Mensch hält das durch, drei mal die Woche eine Geschichte online zu stellen. Irgendwann geht auch dem fleissigsten Schreiber der Stoff aus, und nicht nur der Stoff, nein, in erster Linie die Lust, wieder und wieder aus dem Alltag Geschichten herauszupressen, das Stroh in Gold zu verwandeln sozusagen.’ Das hatte ihm ein Verleger gesagt, der viel Erfahrung mit Autoren hatte und alles wusste über Schreibblockaden, über Zweifel und Anfällen von Einfallslosigkeit, über die sie im Laufe der Zeit alle klagten. ‚Mir wird das nicht passieren’, hatte er gesagt, ’denn mein Leben ist ein vielbändiger Roman, und ohnehin erlebe ich in meinem Alltag lauter Geschichten und Episoden, ich weiss auch nicht weshalb.’ Und er hatte dem Verleger von jener Frau erzählt, die ununterbrochen ihre Männergeschichten zum Besten gab, nur gab es da keinen Mann, er wusste es, denn die Frau hatte es ihm einmal anvertraut, als er sie zufällig getroffen hatte an einem regnerischen Sonntag im Quartiercafé, wo er wohnte. Er habe sich nur zu ihr gesetzt, weil es keinen andern freien Tisch gab, präzisierte er. Er hatte dem Verleger von seinem Nachbar erzählt, der stets das gleiche Musikstück spielte, seit Jahren, und stets an der gleichen Stelle stolperte, er hatte ihm von seinen Reisen erzählt, einem wahren Fundus von Geschichten, hielt er doch jeden Tag fest, fotografisch und in Notaten. Kurz, nach einer Weile hatte ihm der Verleger eine Wette vorgeschlagen: Wenn er es fünf Jahre lang schaffen würde, pro Woche drei Geschichten auf seinem Blog hochzuladen, würde er die besten der Texte in einem Buch publizieren und beträchtliche Mittel dafür verwenden, dass das Buch zu einem Erfolg werden würde. Und zum Zeichen, dass es ihm Ernst war, hatte ihm der Verleger einen hohen Vorschuss gegeben, den er, falls er die Wette verlieren würde, natürlich zurückzuzahlen hätte. Alles war vertraglich geregelt worden und endlich war sein Leben so, wie er es sich vorgestellt hatte: Er war ein freier Autor, er schrieb Geschichten, schöpfte aus dem Vollen, wurde gelesen und musste sich keine Sorgen machen, wie er seinen Alltag bestreiten sollte. ‚Je vis de ma plume’, sagte er, wenn er jemanden kennen lernte und nach seiner beruflichen Tätigkeit gefragt wurde. Ah, wie hatte ihm dieser Satz stets gefallen, früher, als er ihn in Autoreninterviews gelesen hatte. Das alles hatte er seiner Wette zu verdanken, die jetzt zweieinhalb Jahre zurück lag.
    Hätte er gewusst, als er sie einging, wie viele Kindermädchen, Grossväter und Grossmütter er erfinden müsste, wie viele Autofahrten mit Verwandten durch verhangene Landschaften, wie viele tragische Erlebnisse, wie viele Traumata, wie viel Schweres er erfinden musste, vielleicht wäre er die Wette nicht eingegangen. Denn der Vertrag enthielt eine kleine Klausel, die er erst bemerkt hatte, als er bereits unterzeichnet hatte: Er musste es in den fünf Jahren nicht nur schaffen, rund 730 Geschichten hochzuladen, nein, er musste auch mindestens 300 Reaktionen nachweisen können. Und das war schwierig, weil natürlich weder technische Manipulationen noch eigene Reaktionen zählten. Beeinflussen konnte er die Zahl der Reaktionen nur durch den Inhalt der Geschichten. Und Tragisches, das hatte er bemerkt, Tragisches punktete. Eindeutig. Tragisches provozierte Reaktionen, insbesondere, weil er stets ‚ich’ sagte in seinen Texten, so wirkten sie besonders authentisch. Anrührend, wie es Followerin K.H. formuliert hatte.
    Bis jetzt, in der Hälfte der Zeit, lag er gut im Soll der hochgeladenen Geschichten, mit der Anzahl Reaktionen aber war er noch nicht dort, wo er hätte sein müssen. Er würde also weitere Grossväter erfinden, weitere Kindermädchen, weitere Aufenthalte in engen Hotelzimmern, in denen sich ein Junge fast zu Tode geängstigt hatte, er würde wieder und wieder mit einem erfundenen Vater durch Bibliotheken gehen müssen, würde einen Knaben ganz einsam an einen Mittagstisch in einem Restaurant setzen, Tag für Tag musste der Junge dort essen, er war erst neun, während seine Eltern auf Reisen waren, aber halt, dachte er da plötzlich: Wo blieb in dieser Zeit eigentlich das Kindermädchen?

  3. Heinz Egger sagt:

    schon so oft habe ich geschichten im zusammenhang mit der shoah gelesen. aber keine hat mich so unmittelbar getroffen, auf verschiedensten ebenen berührt. woran liegts? ist es das leben in fremden möbeln? ist es die ungewisse an- und gleichzeitige abwesenheit der möbelbesitzer? ist es die schreckliche geschichte, die sich hinter dem warten auf die rückkehr verbirgt? ist es der scheinbare ausgleich, dass wieder jüdische leute auf zeit eingezogen sind? ist es der wahrscheinlich autobiographische zug? ist es die nähe eines geliebten freundes? wie auch immer: das ist ein ganz starker text. starker tobak!

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