Notizen

Sie kauft sie überall. Und von allen Reisen bringt sie neue mit. Sie kennt einzelne Marken, die sie bevorzugt und mit der Zeit hat sie ein Gespür für Läden und Warenhäuser entwickelt, in denen man die besten findet. Kleine Schreibwarengeschäfte an Nebenstraßen oder Tabakhandlungen, in denen auch Schreibwaren verkauft werden, sind die Lieferanten ganz besonderer Exemplare. Weil der Umsatz solcher Läden klein ist, kann man hier Notizblocks und Notizbücher finden, welche die grossen Geschäfte, die bloss noch die Moleskines führen, schon längst nicht mehr anbieten. Clairefontaine ist ihre Lieblingsmarke, das sind handtellergrosse Notizblocks mit Spiralbindung und perforierten Blättern. Sie kennt alle Formate und Farben. Die Memoblocks von M & B liegen auch angenehm in der Hand, während sich die Notizblöcke von Herlitz als zu weich für ihre Handtasche erwiesen haben. Wie andere vom Ausland Seidentücher oder Sonnenhüte mit nach Hause bringen, kauft sie an jedem Ort die farbigen Memoblocks und Notizbücher. Wie schön doch die spanischen Notizbücher sind. Am liebsten würde sie wieder nach Barcelona, um neue zu kaufen. Und wie verwirrend diejenigen aus Tel Aviv sind mit der seltsamen Schrift, die sie nicht lesen kann. Sie trägt stets mehrere Notizbücher mit sich, weil es jederzeit und überall etwas festzuhalten, etwas niederzuschreiben geben könnte. Wie wunderbar die Namen der Geschäfte in Paris zum Beispiel. Sie trägt sie ein, eines Tages, so stellt sie sich vor, würde sie zuhause ein Geschäft eröffnen, eines mit einem französischen Namen, sie müsste dann nur ihre Notizbücher öffnen, und schon würde sie auswählen können: Wie schön klingt doch „La baleine bleue“ oder „Le pays d’où je viens“, „Le livre ouvert“, „Comptoir du désert“ oder „Nouvelles frontières“. Was sich doch alles in diesen Notizbüchern festhalten lässt: Namen von Restaurants, die ihr empfohlen werden, Adressen von Antiquitätenläden, die sie unbedingt aufsuchen möchte, Namen von Reisezielen. Nach Amrum wäre sie nie gekommen, wäre sie nicht in ihrem blauen Notizbüchlein dem Ausdruck „Ambroneninsel Amrum“ wiederbegegnet. Als sie diesen Ausdruck wieder las, wusste sie nicht mehr, wo sie ihn her hatte. Alles schreibt sie nieder, sie hält alles fest, was ihr gefällt. Und weil sie es tut, behält ihr Gedächtnis seit geraumer Zeit nichts mehr. Wofür auch? Sie muss bloss noch nachschauen. Übernachtet sie etwa in einem Hotel, trägt sie dessen Namen und ihre Zimmernummer ein. Sie weiss, dass sie sich weder Namen noch Nummer merken muss, sie muss bloss nachschauen. Sollte sie am nächsten Tag etwas erledigen, listet sie all das Unerledigte auf. Manchmal allerdings gerät sie in Stresssituationen, weil sie aus lauter Liebe zu den praktischen Notizblocks stets mehrere in der Tasche mitführt, mehrere, die sie erst angebraucht hat, weshalb sie häufig nicht weiss, was wo eingetragen ist. „Du solltest Dir einen Notizblock anschaffen, in dem steht, was du wo notiert hast“, meinte kürzlich ein Freund scherzhaft, als er sie ratlos bei der Suche nach einer Notiz sah.

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