Post (1)

Sie weiss genau, wann die Post kommt. Denn sie hört das Knattern des Rollers des Postboten. Der Briefträger kommt stets zur selben Zeit, immer zwischen 11 und 11.15 Uhr. Sie kann Ankommen und Wegfahren anhand des Motorengeräuschs ganz genau voneinander unterscheiden. Hört sie, dass der Briefträger wegfährt, verlässt sie ihre Wohnung im fünften Stockwerk und fährt mit dem Lift hinunter, um nachzuschauen, ob Briefe für sie angekommen sind. Viel Post kommt nicht an bei ihr. Manchmal öffnet sie die kleine Klappe des Briefkastens ihrer Nachbarn vom fünften Stock, um nachzuschauen, ob sie mehr Post erhalten als sie. Es ist eine Angewohnheit, sie könnte kaum erklären, weshalb sie das tut. Sie weiss, dass Rohners die Tageszeitung früh bekommen. Häufig öffnet sie das Paketfach unter dem Briefkasten von Rohners, sie kann es nicht lassen, um nachzuschauen, ob sie die Zeitung geholt haben. Sie selber hat keine Zeitung abonniert, sie geht morgens zur nahen Strassenbahnhaltestelle und holt sich dort die Gratiszeitung ‚20 minuten’ im blauen Kasten ab. Es kann vorkommen, dass sie am späteren Nachmittag nochmals hingeht, um sich im Zeitungskasten nebenan den ‚Blick am Abend’ zu holen. Weshalb ist der Briefkasten von Hellmüllers vom zweiten Stockwerk immer leer, hat sie sich schon gefragt. Bekommen Hellmüllers denn nie Briefe, keine Rechnungen? Sie hat keine Erklärung dafür.

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3 Antworten zu Post (1)

  1. sereth sagt:

    Hellmüllers haben ein Postfach!

  2. Albert Honegger sagt:

    Postfach? Nein. Hellmüllers haben nach dem Einzug bemerkt, dass sie eine Nachbarin haben, der sie nicht über den Weg trauen. Kontrollfreak nennen sie sie. Seit zwei Jahren kommt ihre Post in seinem Büro an. So einfach ist das. Ein Postfach wäre zu umständlich. Da muss man immer hin. Und diese Postfachanlagen sind so deprimierend. A.H.

    • Lettramix sagt:

      Oh nein, lieber Herr Honegger, Postfachanlagen sind gar nicht deprimierend. Für mich sind es hoch emotionale Orte. Hoffnung, Enttäuschung und Angst sehe ich da. Haben Sie schon mal jemanden beobachtet, der ganz vertieft war in die Lektüre eines Briefes, ja, eines richtigen Briefes, geschrieben in Handschrift und auf richtigem Briefpapier? Oder jemanden, der einen Stapel Rechnungen einfach zerriss und in den grossen Mülleimer warf? Ich mag Postfachanlagen sehr und stelle mir stets vor, wie es wäre, dort ein Theaterstück zu inszenieren.

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