Postfach (Post 5. Die Letzte)

Geschichten müssen einen Anfang haben und ein Ende. Geschichten müssen einen Höhepunkt und Überraschungen haben. Geschichten müssen emotional sein. Geschichten müssen von Menschen handeln, die wie wir sind. Die britische Theatertruppe „Forced Entertainment“ tourt derzeit durch Europa mit dem Stück „The coming Storm“, in dem es um nichts anderes geht als um Erzählweisen. Schon zu Beginn des Stücks tritt Schauspielerin Terry O’Connor auf, die rund zehn Minuten lang Sätze aufsagt, die immer gleich beginnen: „A good story should…..“. All das weiss Frau Mäder nicht. Frau Mäder hat die drei Aufführungen von „Forced Entertainment“ im Theater Gessnerallee in Zürich verpasst. Verpasst ist zwar nicht der richtige Ausdruck. Denn Margrit Mäder war noch nie in der Gessnerallee. Margrit Mäder geht nicht ins Theater. Auch nicht ins Kino. Margrit Mäder hat einen Fernseher. Und das ist gut so. Auch wenn Margrit Mäder nicht gehört hat, dass Terry O’Connor meint, „A good story needs a dramatic moment“ , so hat sie einen solchen dramatischen Moment in ihrer eigenen Geschichte und in diesem Blog miterlebt. Gerade hier und jetzt. Margrit Mäder hat nämlich Mut gefasst. Endlich. Um herauszufinden, wo Hellmüllers ihre Post bekommen, ist sie heute früh Helga Hellmüller gefolgt. Zwar nicht so plump wie es hier klingt. An der Strassenbahnhaltestelle hat sie auf die beiden Hellmüllers gewartet. Und weil sie genau weiss, wann Hellmüllers morgens zur Arbeit fahren, war sie bereits vor den beiden da. Es war kein Problem, sich zwischen den anderen Passagieren unsichtbar zu machen. An der Haltestelle vor der Post ist Helga Hellmüller ausgestiegen. Und sie hat Frau Mäder nicht bemerkt. Weshalb denn auch. Helga Hellmüller ist kein misstrauischer Mensch. Margrit Mäder ist ihr nach. Sie ist ihr in die Halle der Postfächer gefolgt. Und sie hat es gesehen: Hellmüllers haben ein Postfach. Hellmüllers leeren morgens ein Postfach. Hellmüllers bekommen sogar zwei Zeitungen ins Postfach geliefert. Das hat sie deutlich gesehen. Aber die Art und Weise wie Frau Hellmüller ihr Postfach öffnet, konnte Margrit Mäder nicht fassen: Helga Hellmüller hat ihre Schlüssel an einem Werbebändel um den Hals gehängt. Sie könnte ausrutschen und sich so eine Halsverletzung holen. Sie könnte sich einen Halswirbel brechen, sollte sie das Gleichgewicht verlieren. Margrit Mäder war entsetzt, als sie das sah und rief Frau Hellmüller laut zu, sie schrie ihr eher zu, sie solle aufpassen, es sei gefährlich, wie sie das Postfach öffne, worauf Helga Hellmüller so erschrak, dass sie ihr Gleichgewicht verlor und rückwärts umzufliegen drohte. Helga Hellmüllers Gesicht lief sofort blau an, sie konnte sich aber an Margrit Mäder halten, schaute sie an und sagte ganz leise: „Sie haben auch ein Postfach, das wusste ich gar nicht“.

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