Zeitungsklau

Manche Hotelgäste betreten den Frühstücksraum im Hotel grusslos. Andere murmeln zaghaft einen Gruss. „Bonjour.“ Oder „Guten Morgen.“ Nach dem Frühstück ist es nicht anders. Schweigend verlassen die Grusslosen den Raum, die Grüssenden hingegen wünschen noch einen „Schönen Tag.“ Arbeitskollegen, die in einem Hotel untergebracht sind, meistens sind es kleine Gruppen von Männern: Techniker, Handwerker auf Montage oder Mitarbeiter einer Bank oder einer Versicherungsfirma, unterhalten sich am Tisch. Einzelreisende sind still, sie suchen in Hotels nur selten Gesprächspartner, sie nehmen zum Frühstück die Zeitung, die auf einem Tisch am Eingang des Frühstückraums liegt und lesen beim Essen. Nicht selten reissen sie eine Seite heraus, es ist häufig die Seite mit dem Filmprogramm. Sie machen es möglichst leise, blicken sich vorher um, um sicher zu sein, dass ihnen wirklich niemand dabei zuschaut. Sind zu viele andere Hotelgäste im Raum, nehmen sie die Zeitung mit, gehen dreist am Tisch vorbei, auf dem die Zeitung vorher lag, sie nehmen sie mit aufs Zimmer, als würde sie ihnen gehören. Ich bin auch schon einem Hotelgast nachgesprungen und habe ihn aufgefordert, mir die Zeitung zu geben, die er gerade entführen wollte. „Oh, ich hab’s gar nicht gemerkt“, lautet in solchen Situationen die Ausrede. Ich weiss es, ich habe meine Erfahrungen gemacht. Ich gebe es unumwunden zu: Ich gehöre zur Kategorie derjenigen, die die ganze Zeitung oder zumindest das Feuilleton entführen. Ich gehöre zu den Zeitungssüchtigen, ich weiss nicht weshalb, aber ich mag gerade auch jene Zeitungen, die mir im Alltag seltener begegnen. Es ist wohl dasselbe Phänomen wie beim Besuch einer Stadt unweit von meinem Wohnort. Sie muss nicht weiter als vierzig Kilometer entfernt liegen. Immer entdecke ich gerade dort in den Auslagen der Geschäfte Sachen, von denen ich überzeugt bin, dass ich sie in meiner Stadt nicht finden würde. Immer sind die Schaufenster der Läden in Rapperswil oder Solothurn spannender als diejenigen in Zürich. Ich weiss, dass es nicht stimmt. Vielleicht ist es der offenere Blick auswärts. Es ist vergleichbar mit meinen Fotografien. Weshalb stosse ich in Klagenfurt oder in Augsburg auf lauter Motive, von denen ich überzeugt bin, ich würde sie in Zürich nicht finden? Die alte Renault Dauphine in Mulhouse oder die Voigtländer CLR aus den 60er Jahren im Schaufenster von Foto Gross in St.Gallen. Gewiss könnte ich auf beide auch in Zürich stossen. Aber dem Basler Fotografen geht es in Zürich wohl ähnlich wie mir auswärts. Genauso verhält es sich mit den Zeitungen. Häufig ist das Feuilleton der fremden Zeitung interessanter als der Kulturteil meiner Zeitungen. Ich weiss, dass das nicht stimmt. Die Ausstellung, die gerade in „Le Monde“ besprochen wird, wurde schon vor Tagen in der Süddeutschen Zeitung besprochen. Und das Buch, das „Die Presse“ aus Wien vorstellt, hat der Tagesanzeiger in Zürich bereits vor Wochen besprochen. Und dennoch bin ich heute wieder aus dem Frühstücksraum meines Hotels mit dem Feuilleton der „Kleinen Zeitung“ in mein Zimmer gegangen. Ich habe die Seite mit dem Text über das neue Buch von Boris Sianowitsch herausgerissen. Ich will das Buch bei meiner Buchhandlung bestellen. Die Zeitungsseite liegt in einer Sichtmappe neben dem Hotelbett, in der schon andere Zeitungstexte auf die Zweitlektüre zu Hause warten. Dabei weiss ich schon jetzt, dass ich häufig nach Reisen herausgerissene Zeitungsseiten ungelesen in die Altpapierschachtel lege. Ich kann es nicht lassen, es ist die kleine und etwas asoziale Sucht des Zeitungslesers.

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Eine Antwort zu Zeitungsklau

  1. Sabine Haberfeld sagt:

    Als häufiger Hotelgast – ich bin eine Frau, das Wort Hotelgästin gibt es leider nicht – bin ich immer wieder Opfer von Zeitungsklauern. Daher meine dringende Bitte: die Zeitung im Netz lesen! Das erspart uns Zweitleserinnen, die wir vielleicht etwas später im Frühstücksraum erscheinen, jene Wissenslücken, wenn wir kein Feuilleton mehr vorfinden und die gerade wunderbarste Ausstellung im Grand Palais oder in der Pinakothek der Moderne verpassen. S. Haberfeld

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