Reisen mit Max

In der StrassenbahnAlle zwei Jahre fahren Max und ich weg. Wir verbringen jeweils eine Woche in einer fremden Stadt. Es muss eine grosse Stadt sein. Paris. London. Amsterdam. Triest. Istanbul. München. In Lissabon waren wir auch schon. Nur bei Neapel konnten wir uns nicht einigen. Max wollte hin. Ich mochte nicht. Esther und Vera kommen nicht mit. Männerferien. Vera war schon eifersüchtig auf diese Männerferien. Als Max vor vier Jahren Vera zu verstehen gab, dass wir beide nach München fahren werden, da beharrte Vera darauf, vorher mit Max nach München zu fahren. Max gab nach, die beiden weilten zwei Tage in München, es waren keine zwei sehr gute Tage. Max ist Langschläfer. Mich nennt er „Early Bird“. Max erscheint im Frühstücksraum kurz vor zehn, knapp bevor das Frühstücksbuffet abgeräumt wird, genau dann, wenn ich von einem langen Morgenspaziergang zurückkomme, um mit ihm am Frühstückstisch meinen zweiten Kaffee zu trinken. Max und ich haben sehr unterschiedliche Reisevorstellungen. Zwar einigen wir uns schnell auf eine Stadt, die wir besuchen wollen. Aber dann: Max weigert sich, vorher oder während des Aufenthalts in der fremden Stadt einen Reiseführer zu konsultieren. Ich komme bereits mit zwei Reisebüchern an. Wir schliessen Kompromisse. Am ersten, dritten und fünften Tag ist Max unser Guide. Am zweiten, vierten und sechsten lege ich unser Programm fest. Das ist beschlossene Sache. An den Maxtagen, so nennen wir sie, verlassen wir gegen elf Uhr das Hotel. Planlos. (Max ahnt nicht, was ich seit morgens um sieben schon alles gesehen habe). Max will nicht, dass ich für uns zwei eine Gehrichtung festlege. Max geht dann einer inneren Intuition folgend. Wir flanieren planlos durch die jeweilige Stadt. Max hätte ohne mich den Topkapi verpasst. Und die Pinakothek der Moderne. Und die wunderbare Schutzkirche „Onze lieve heer op zolder“ in Amsterdam. Ich gebe zu, dass Max die bessere Nase hat für gute Restaurants. Ich weiss nicht, wie er das schafft. Ich muss den Baedeker oder den Guide Michelin konsultieren, wenn ich die lokale Küche testen will. Max findet die weitaus besseren Lokale als der Reiseführer, es sind stets die schöneren Bistros und Restaurants als diejenigen, die ich anpeile. Als wir vor drei Jahren in Brüssel ankamen, hatte Max bloss einen langen Ausdruck von Wikipedia zu Brüssel dabei. Keinen Stadtplan, keine Tourenvorschläge. Ich hatte Max in Brüssel vorgeschlagen, eine geführte Stadttour mitzumachen. Max winkte ab und ich fuhr dann alleine, während Max in einem Bierlokal auf mich wartete, wo er mit Einheimischen ins Gespräch über belgische Biere kam, die uns dann zu sich zum Abendessen einluden. Fred und Tess Van Laeren sind heute noch mit uns beiden befreundet. Ich gebe zu, sie waren seine Entdeckung. Max macht mich unsicher. Das habe ich ihm schon gesagt. Ist wohl seine Art zu reisen, die bessere? Max kennt eine solche Unsicherheit nicht, auch wenn ihm schon einmal in Lissabon bei einer ungeplant spontanen Wanderung im Stadtteil Alfama das Portemonnaie samt Kreditkarte und Personalausweis geklaut wurden. Kürzlich sassen wir in Amsterdam in der Strassenbahn der Linie 26 und zwei Engländerinnen breiteten umständlich den grossen Stadtplan aus und begannen sich zu streiten, ob die Linie 26 nun nach Yburg oder an den Olympiastadion fährt. „Ohne Stadtplan geht’s leichter“, sagte Max der einen Dame. „Fragen Sie doch einen anderen Passagier, wie man zum Stadion kommt, ist doch viel einfacher als einen so grossen Stadtpan zu konsultieren“. Max mag historische Gebäude. Ich liebe moderne Bauten. Max hat tiefen Blutdruck, ich auch. Max mag keine Krimis, ich auch nicht. Max und ich verreisen immer noch alle zwei Jahre für die Dauer einer Woche. Max und ich sind so verschieden, aber offenbar viel ähnlicher jedenfalls, als Sie sich jetzt denken.

 

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Stilleben

BouquetEsther mag Blumen. Gartenarbeit mag sie nicht. Esther mag Blumensträusse. Sie mag sie einen Tag lang. Es können auch zwei Tage sein, allerhöchstens drei. Esther hat einen Geruchssinn wie sonst keiner in meinem Freundeskreis. Es genügt, wenn ich einen Bissen Marzipan gegessen habe: Esther muss mich nicht einmal küssen, um mich zu fragen, ob ich heute Marzipan genascht hätte. Du hast ein neues Shampoo, sagt sie. Dabei sitze ich im Wohnzimmer und sie kommt gerade zur Wohnungstür hinein, sieht mich noch nicht einmal. Esthers Geruchssinn kann beängstigen. Wer hat dich geküsst, hat sie mich schon gefragt. Drei Freundschaftsküsse waren es bloss gewesen. Esther kann kein neuer Geruch entkommen. Esther kann mit Ekel reagieren, wenn man in ihrer Nähe einen Apfel schält. Noch bevor sie im Mülleimer landen, stecke ich Schalenreste von Aepfeln in kleine Plastiksäcke. Ich will Esther nicht unnötig ärgern. Wirkliche Probleme stellen eigentlich nur Blumensträusse. Esther liebt Blumensträusse. Am Dienstag begleite ich Esther gewiss an vierzig Wochen im Jahr an den Blumen- und Gemüsemarkt. Ich schenke Esther jedes Mal einen Blumenstrauss. Esther liebt runde Blumensträusse. Ranunkeln sind ihre Liebelingsblumen. Und Pfingstrosen. Einzig Tulpen kommen uns nicht ins Haus. Wir haben eine wunderbare Vasenkollektion. Wie schön die frischen Bluensträusse im Wohnzimmer aussehen. Wie wunderbar passend die Blumenvasen. Diese Bouquets sind eine Freude. Und sie sind ein Problem. Spätestens am Donnerstagabend wird der am Dienstag zusammengestellte Blumenstrauss aus dem Wohnzimmer verbannt. Ich kann diesen Duft nicht mehr riechen, klagt Esther. Esthers Nase reagiert bereits auf allerfeinste Spuren von Verwesung. Stelle bitte die Blumen in dein Arbeitszimmer, bittet sie mich dann. Auf meinem Schreibtisch bleiben die Blumen dann noch bis am Sonntag oder sogar bis am Montag. Nein, du sollst mir nicht am Freitag einen neuen Blumenstrauss kaufen, hat mir Esther schon wiederholt gesagt. Deshalb fotografiere ich jedes Blumenbouquet, das wir uns von der Floristin zusammenstellen lassen. Ich fotografiere ihn noch am ersten Tag, wenn die Farben der Blumen noch leuchten. Kaum ist der Blumenstrauss auf meinem Schreibtisch und aus dem Wohnzimmer verbannt, leuchtet er Esther vom grossen Digitalbildschirm im Wohnzimmer entgegen. Ich habe mittlerweile eine grosse Kollektion von Blumensträussen. Sie duften nicht, sie stinken nicht, sie verwesen nicht. Es sind Stilleben, die ein holländischer Maler im Goldenen Zeitalter der Niederlande hätte gemalt haben können. Jeweils von Donnerstag bis Sonntagabend oder Montagmorgen steht der auf dem Blumenmarkt gekaufte Blumenstrauss zweimal in unserer Wohnung. Am Dienstag sind wir frühmorgens wieder auf dem Markt anzutreffen.

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Zimmer mit Aussicht

Aufgeräumt muss es sein, wenn sie sich an ihre Arbeit macht. Unordnung würde sie ablenken. Sie mag es geordnet. In jeder Hinsicht. Ihr Schreibtisch ist erstaunlich klein. Eine Blume, eine Teekanne, eine Schale mit Keksen und ihre Farbstifte, mehr darf es nicht sein. Pünktlich um 9 setzt sie sich an ihren Schreibtisch. Wenn sich der Wecker um 12 Uhr meldet, dann ist die Zeit für die erste Pause gekommen. Nein, sie kocht nicht, mittags geht sie spazieren. Eine Stunde lang. Und immer ist es derselbe Weg. Am Fischteich entlang, den Hang bis zur halben Höhe hinauf, von wo sie ihr Haus und ihr Arbeitszimmer sieht. Sie lässt das Licht an, vom gegenüberliegenden Hang aus schaut sie hinüber, sieht die Lampe auf ihrem Arbeitstisch leuchten, jetzt zieht es sie wieder zurück. Kurz nach eins ist sie wieder zu Hause. Zeit für ein Stück Brot, mehr soll es nicht sein. Von 14 Uhr bis 17 Uhr schreibt sie weiter. Sie blickt hinaus und schreibt über eine Landschaft, die weit weg liegt. Es ist die Landschaft ihrer Kindheit. Sie ist in einem Bauernhaus aufgewachsen. Bücher gab es kaum im Haus. Sie kann sich an eine Hausbibel erinnern und an ein dickes Telefonbuch. Und an den Bauernkalender. Werktags sass man beim Essen in der Küche, nur an Sonntagen assen sie im Wohnzimmer am grossen Tisch. Sonntag war der Tag, an dem ihr Vater stets ein weisses Hemd trug. Es war jede Woche dasselbe Hemd, das Mutter am Montag von Hand wusch und am Mittwoch bügelte. Am Sonntag wurden die schönen Teller aus dem Geschirrschrank geholt. Und das Silberbesteck, aus Mutters Mitgift. Gäste gab es keine. Nur die beiden Tanten, die beiden unverheirateten, die im selben Dorf wohnten, sassen ein Mal im Monat mit am Tisch. Immer am ersten Sonntag im Monat. Nur dann. Jung waren die beiden Tanten nie gewesen. In ihrer Erinnerung sind sie beide alte Damen, beide immer etwas unzufrieden. Die Zeit auf dem Hof ist längst vorbei. Der Hof verkauft, das Erbe verteilt. Alle zwei oder drei Jahre sucht sie das Dorf ihrer Kindheit auf. Der elterliche Hof ist umgebaut worden. Heute wohnen am Wochenende Städter im Haus. Der alte Traktor ist noch geblieben. Die neuen Besitzer haben ihn auffrischen lassen, gefahren wird der grüne Traktor, der hinter dem haus auf dem Parkplatz steht, nicht mehr. Gestern beschrieb sie einen Spaziergang von einst. Sie geht mit einem Gedichtband den Hügel hinauf zur Kapelle, sie setzt sich unter dem Vordach hin, lernt wieder ein Gedicht auswendig. Sie will Schauspielerin werden. Oder Lehrerin. Sie will weg von diesem Bauernhaus. Sie will nicht im Stall arbeiten, sie will keine Äpfel oder Kirschen pflücken müssen. Nie mehr. Das schreibt sie Jahrzehnte später in ihrem neuen Haus. Es ist wieder ein Haus auf dem Land, ein neues Haus in einem Dorf. Nie hätte sie gedacht, dass sie wieder auf dem Land leben würde. Sie beschreibt eine frühere Zeit, die es heute gar nicht mehr gibt. Sonntags in der Kirche. Im Herbst der Viehmarkt im Nachbardorf. Viehhändler Bollag kommt im Text vor. Der Jude. Sie beschreibt den Schulweg im Winter. Damals lag noch Schnee auf der Strasse. Sie beschreibt auch eine Erinnerung, die nicht ihre Erinnerung sein kann. Vaters erste Frau, die Mutter ihrer beiden Halbgeschwister, ist auf dem Weg ins Nachbardorf überfahren worden. Es ist die Tante, die sie nie gekannt hat. Mutters Schwester.

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Bildermacher

Er kommt immer dann, wenn die Veranstaltung schon angefangen hat. Regelmässige Besucher von Lesungen und Vorträgen, von Vernissagen und Jazzkonzerten kennen ihn, auch wenn die meisten seinen Namen nicht kennen. Er kennt keine Hemmungen. Er schafft es, am Autor, der gerade aus seinem neuen Roman vorliest oder am Referenten vor den Augen der Zuhörer vorbeizugehen, um sich an der Seite des Veranstaltungsraums hinzustellen und zu fotografieren. Er ist der Veranstaltungsfotograf. Er schaut sich im Wochenprogramm genau um, er hält das kulturelle Leben der Stadt seit Jahren in Bildern fest. Sein Archiv mit Bildern von Autoren, Jazzmusikern, Professoren, Malern und Bildhauern ist immens gross. Seine schwarze Kamera mit dem grossen Teleobjektiv ist schwer. Immerhin hat er irgendwann aufgehört, an Veranstaltungen zu blitzen. Irgendwann hatte ihm ein Veranstalter mitgeteilt, er werde ihn mit einem Hausverbot belegen, wenn er weiterhin an Veranstaltungen blitzen würde. Das Summen des Kameramotors könne er nicht abstellen, sagt er. Weil er manchmal mehrere Veranstaltungen am selben Abend besucht, kommt er immer zu irgendeiner Veranstaltung, manchmal sogar zu mehreren Veranstaltungen, zu spät. Dass die Veranstalter ihn dennoch gewähren lassen, hat mit der Eitelkeit der Organisatoren und der Künstler zu tun. Denn er ist es, der festhält, dass eine Veranstaltung gut besucht wurde. Sie melden sich noch am selben Abend mit einer Mail bei ihm, ersuchen ihn um die Zusendung von Bildern, für die sie auch zu zahlen bereit sind. Sie nehmen die Störung in Kauf, die besonders dann unangenehm wird, wenn er sich neben der Bühne oder hinter dem Referenten hinstellt und ein Bild vom Publikum macht. Genauso wie er zu spät kommt, verlässt er lange vor dem Ende der Veranstaltung wieder den Raum, was alle mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen. Immerhin hat er an einem Ort etwas gelernt: Im städtischen Erzählcafé erscheint er stets eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn und fotografiert dort die Gastautorin oder den Gastautor eine halbe Stunde vor Beginn der Lesung, immer vor demselben Wandbild, immer mit demselben Hintergrund. Er notiert sich jeweils den Namen der fotografierten Person, die Bildlegenden stimmen immer. Und so wie sich die Fotografierten seinen Namen nicht merken können, so kennt er die Bücher oder die Anliegen der Fotografierten nicht, weil er stets weiter muss. „Macht nichts“, hat er mir schon gesagt, „Hauptsache, ich habe sie im ‚Kasten’“.

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Büchernarr

Bücher aus meiner Kindheit und aus meiner Jugend besitze ich nicht mehr. Ich bin als Elfjähriger aus Tel Aviv nach Amsterdam ausgewandert worden. Meine Bücher von damals sind nicht mitgekommen. Aber auch die Bücher aus meiner niederländischen Jugendzeit sind mit einer Ausnahme nicht mehr vorhanden. Mit den Jahren habe ich sie entsorgt. Dennoch kann ich mich an Leseerlebnisse und an Bücher aus jenen frühen Jahren erinnern. Eine Jugendbande namens „Chassamba“ gehörte zu meinen Idolen. Erfunden hat sie der israelische Autor Igal Mossinson. Ich staune darüber, wie diese beiden Namen sich jetzt einstellen, da ich an jene Zeit zurückdenke. Ich kann mich auch noch an das hebräische Buch über jüdische Nobelpreisträger und an eine Jugendenzyklopädie erinnern. Aus den holländischen Jahren ist einzig ein Taschenatlas der Niederlande übrig geblieben, ein Buch im Verlag Prisma, herausgegeben im Jahr 1957. Erinnern kann ich mich noch daran, dass ich in jener Zeit am Zeitungskiosk am Koninginnenplein regelmässig Ausgaben der Reihe „Illustrated Classics“ gekauft habe. Das waren gezeichnete Klassiker der Weltliteratur mit Sprechblasen und farbigen Bildern: Ivanhoe, Romeo und Julia, Robin Hood, die Reise um die Welt in achtzig Tagen waren dabei. Andere Leseerinnerungen? Mein Vater hatte die gelben Hefte von National Geographic Magazine abonniert. Am liebsten waren mir alte Ausgaben mit Bildern vom Zweiten Weltkrieg und Fotos vom Koreakrieg. Ich bewunderte die amerikanischen Soldaten und mochte die Frauen, die in der Werbung in Badekostümen neben amerikanischen Autos standen. Sie faszinierten mich mehr als die Heckflossen und die chromblitzenden Stossstangen.

Meine Eltern hatten eine grosse Bibliothek. Es waren mehrheitlich Vaters Bücher. Erst spät habe ich verstanden, dass hier die deutsche Klassik und die Welt der Weimarer Republik versammelt waren: Viel Goethe und Schiller, Keller und Meyer, Uhland, Kleist, E.T.A. Hoffmann. Und auch noch Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Thomas Mann, Rilke und Stefan George.

Ich habe den Weg zu den Klassikern der deutschen Literatur verpasst. Als Kind in Israel ohnehin. Als Jugendlicher in Holland nochmals. Und als ich in die Schweiz kam, da waren schon Frisch und Dürrenmatt, Böll und Grass auf dem Programm er fünften Gymnasialklasse. Ich bin in diesem Sinn schrecklich ungebildet. Auch Grimm ist an mir vorbei. Und so viele andere. Als ich als Erwachsener aktiv und intensiv zu lesen begann, waren es die Bücher der Antipsychiater Goffman, Szasz, Laing und Cooper, die mich fesselten, dann Bücher zur amerikanischen Geschichte, zur Kolonialzeit und zum Zweiten Weltkrieg.

Ja, ich bin ein Büchernarr. Ich kaufe Bücher, ich lasse mir von Verlagen Bücher schicken, mehr Bücher als ich jemals lesen und verarbeiten könnte. Es gibt Bücher, die meine Freunde werden, Begleiter, Erinnerungspunkte. Und es gibt Bücher, die ich nach 30 oder 60 Seiten weglege, nie mehr anschaue. Ich kenne Leute, die sich durch ungeliebte Bücher durchquälen. Das tue ich mir nicht an. Man darf es nicht sagen, aber ich gebe unumwunden zu, dass ich schon Bücher in die Papiertonne gekippt habe. Bücher, von denen ich dachte, kein Antiquariat und kein Brockenhaus würde sie jemals annehmen wollen. Ich habe zwar jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich Bücher in die Tonne befördere. Aber ich tu’s manchmal trotzdem. Geschenkte und ungelesene Paolo Coelhos, Martin Suters und Arnon Grünbergs sind schon dort gelandet, aber auch Bücher von Leon de Winter. http://buchort.ch/

Bücher üben eine magische Sogwirkung auf mich aus. Sogar in Mailand oder Lissabon suche ich Buchhandlungen auf, obschon ich weder portugiesische noch italienische Bücher in der Originalsprache lesen kann. Ich nehme dann die Bücher in die Hand, versuche anhand der Klappentexte zu erraten, wovon die betreffenden Bücher handeln und bedauere jedes Mal, dass ich diese und andere Sprachen nicht beherrsche. Bin ich in Frankfurt oder in Leipzig an der Buchmesse, dann halte ich mich während Stunden in jenem Bereich auf, der „Schönste Bücher aus aller Welt“ heisst. Ich notiere mir die Titel jener schönsten Bücher auf, die mir am besten gefallen und bestelle dann zwei oder drei, die ich später nicht unbedingt von Anfang bis zum Ende lesen muss. Das Buch über Sigmund Freuds Hausnachbarn an der Berggasse in Wien gehört zu diesen Büchern. Oder eines über ein Tal in Österreich, in dem ich nie gewesen bin.

Ich weiss, wo sich die besten belletristischen Buchhandlungen meiner Lieblingsstädte befinden. Atheneum Amsterdam! Tola’at Sfarim Tel Aviv. Bücherbogen Berlin. Zur Rose St.Gallen. Ich kenne mich in diesen Läden aus, ich weiss genau, wo ich meine Bücher hier finde. Gerne hätte ich ein gutes Buchgeschäft in jenem Stadtteil, in dem ich wohne. Seitdem der Bücherladen an der Bertastrasse auch eine Edelpapeterie geworden ist, lockt der Laden nicht mehr. Und dann erinnere ich mich: Jahre sind es her, da bin ich regelmässig wegen einer Buchhändlerin von Zürich nach Zug gefahren, um dort in der Buchhandlung an der Schmidgasse meine Bücher zu kaufen: Fanny Notz wusste genau, was ich gerne lese. Ja, im Zeitalter des Internets wünscht man sich Buchhändler, die leidenschaftlich lesen und mit Leidenschaft von Büchern erzählen können!

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72 81 76

Fünfzig Jahre nach dem Wegzug von Amsterdam fällt mir unsere Telefonnummer von damals immer noch ein: zeven twee acht een zeven zes. Wenn ich heute die Amsterdamer Vorwahl 0031 20 einstelle und anschliessend die Telefonnummer von früher, kommt eine automatische Ansage in vier Sprachen , wonach die gewählte Nummer nicht gültig sei. Kein Wunder, sind doch die Telefonnummern in Amsterdam seit langem schon achtstellig. Wenn ich in Amsterdam zu Besuch bin, begebe ich mich jedes Mal an die Valeriusstraat. Ich stehe vor dem Haus Nummer 58h, schaue mich um und erinnere mich an die Schulfreunde und Nachbarskinder. Schräg gegenüber wohnten Boudewijn und Gerbrand. Und gleich nebenan die beiden Brüder van Dantzig. Drei Häuser weiter wohnte Tessa, deren Mutter eine Schweizerin war. Was wohl aus Marijke geworden ist? Das kleine Schild an der Hausmauer mit der Aufschrift „Geen poep op de straat“, ist nicht mehr da. Und seitdem am Trottoirrand Fahrradständer montiert wurden, ist die Tafel „Geen fiets tegen de raam“ überflüssig geworden, auch wenn sie nicht entfernt wurde. In all den Jahren seit unserem Umzug habe ich dreimal die Klingel an der Eingangstür betätigt. Und jedesmal durfte ich die Wohnung betreten, durfte durch die Wohnung von damals gehen. Ich kann mich noch gut an die Familie Vermeulen erinnern, die mich zu einem Kaffee eingeladen hat. Zwei Familien haben nach den Vermeulens hier gewohnt. Beim letzten Versuch, erzählte mir eine Nachbarin, die mich vor dem Haus ansprach, dass hier vor kurzem ein junges Paar eingezogen sei. Ich weiss, dass aus dem früheren Elternschlafzimmer mit den Jahrzehnten ein Esszimmer geworden ist, das Schlafzimmer hatten Vermeulens in den ersten Stock verlegt. Als ich vor kurzem zufällig eine Fotografie von der Valeriusstraat in einer meiner Umzugsschachteln im Keller fand, habe ich eine Liste all jener Adressen erstellt, an denen ich seit meiner frühen Kindheit gewohnt habe. Achtzehn Adressen sind mir eingefallen. Und was mich besonders überrascht hat: Zu jeder Adresse mit einer Ausnahme ist mir auch die jeweilige Hausnummer eingefallen. Ich habe in meinem Bilderarchiv nachgeschaut und gesehen, dass ich von zehn dieser Wohnadressen sogar noch Fotos besitze. Das Haus an der Sonnenhaldenstrasse, an dem ich kürzlich vorbeiging, sieht ziemlich heruntergekommen aus. Und ob das Haus an der Giselastrasse noch steht, weiss ich nicht. Kürzlich hielt ich an der Melchtalstrasse an, um ein Bild vom Haus Nummer 3 zu machen, aus dem wir vor 32 Jahren weggezogen sind. An der Glockentafel steht noch ein Name von früher. Ob sich die Nachbarin von damals noch an mich erinnert hätte?

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La Fête des voisins

Jahre sind es her, da hatten mich Freunde aus den USA in Amsterdam besucht. Sie hatten zu Hause in einer Zeitung vom Freitags-Käsemarkt im nordholländischen Alkmaar gelesen, weshalb sie unbedingt an einem Freitagvormittag hin mussten. Ich war wohl etwas feige und wollte den beiden Amerikanern die Freude am Gesehenen nicht verderben. Sie hatten mir Bilder von den Käseträgern in ihren weissen Kleidern beim Schleppen der Traggestelle gezeigt. Auf den Tragen waren die schweren Käselaiber aufgetürmt, die unter lautem Rufen der Käsehändler bei einer Art Käseversteigerung vor Publikum den Besitzer wechselten. Die beiden Amerikaner waren hin von den Bildern, die sie vom Käsehandel vor der Waag von Alkmaar gemacht hatten. Ich hatte ihnen nicht verraten, dass der Käse, der hier an jedem Freitag vom April bis September verhandelt wird, eine Woche später nochmals am Marktplatz von Alkmaar verkauft wird, weil der „traditionelle“ Käsemarkt von Alkmaar bloss noch ein Touristenspektakel ist. Anbieter und Käufer, die Wagenladungen von Käse verhandeln, sind Einwohner von Alkmaar, die in der Touristensaison als schauspielernde Käsehändler und Käseträger ein gutes Taschengeld verdienen. Ich habe jene Fotografien vom Käsemarkt bis zu jenem Zeitpunkt verdrängt, als mir kürzlich ein Freund aus Frankreich Bilder von Touristen aus Korea zeigte, die davon überzeugt waren, eine echte Krankenschwester und eine echte Polizistin am Frühlingsfest der Staatsangestellten von Strassburg , dem Fête des voisins, wie sie es nannten, zu fotografieren. Dass es sich bei den beiden abgebildeten Frauen bloss um kostümierte Studentinnen handelte, die an einem Fasnachtsball teilnahmen, wollte der Mann aus Busan in Südkorea entweder nicht glauben oder nicht wahrhaben. Freunden zeigte er nach seiner Rückkehr in Korea Bilder aus Europa, von denen er überzeugt war, sie würden die Wirklichkeit zeigen. Ich weiss nicht, wer ihn davon überzeugt hatte, dass es sich hier um eine echte Krankenschwester und um eine echte französische Polizistin handelte.

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Baise-en-ville

Wenn ich meinen Nachbarn an der Bushaltestelle mit seiner hellbraunen weichen Reisetasche stehen sehe, weiss ich, dass er wieder für einen Tag und eine Nacht verreisen wird. Es ist immer dieselbe helle Ledertasche, die etwas ältlich wirkt. Kürzlich war er unterwegs nach Mailand. Geschäftlich, wie er betonte. Ein anderes Mal unterwegs vom Bahnhof nach Hause in der Strassenbahn sagte er, er sei gerade bei Kunden in Köln gewesen. Etwas verlegen, sagte ich, eine schöne Reisetasche haben Sie. Ein klassisches Modell, gab er zur Antwort. Und dann sagte er noch etwas, das ich nicht auf Anhieb verstand. Er sah meinen fragenden Blick und wiederholte langsam: „Baise-en-ville“. So nenne man in Frankreich jene Gepäckstücke, die man auf kurze Reisen mitnehme. Den Ausdruck hatte ich noch nie zuvor gehört, weshalb ich zuhause den grossen Larousse aus dem Büchergestell holte, um erstaunt festzustellen, dass „Baise-en-ville“ eigentlich ein Ausdruck ist, der alles andere als zu Geschäftsreisen gehört: „Baise en ville: expression désignant un sac de voyage de taille réduite destiné à ranger l’indispensable et le superflu en prévision d’un court séjour chez une tierce personne, de préférence son amant du moment.“ Als ich meinem Nachbarn gestern im Treppenhaus mit seiner eleganten Tasche begegnete, sagte ich: „Ah, Sie sind wieder mit ihrem „Baise-en-ville“ unterwegs. Ich konnte gerade noch die Frage unterdrücken, ob seine Frau wohl auch die Bedeutung des französischen Ausdrucks seines Gepäckstücks kenne.

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Bilder

Ich habe ihn vor dem Benediktinerinnenkloster St.Johann in Müstair beim Aussteigen aus dem Auto gesehen. Eindeutig auch er ein Tourist. Er stand auf dem Parkplatz vor der grell weissen Klostermauer und fotografierte das Kloster. Er stand da, hob die beiden Hände in die Höhe, richtete seine Kamera auf das Klosterareal und fotografierte mehrmals. Immer wieder war ein Klickgeräusch zu hören, der Mann schien eine ganze Serie von immer gleichen Bildern zu machen. Es dauerte einige Sekunden bis ich merkte, dass der Mann gar keine Kamera vor sich hatte, er tat nur so als würde er fotografieren. Das Klackgeräusch kam aus seinem Mund, schien eine Art Schnalzen zu sein. Er hatte offenbar nichts dagegen, dass ich ihn bei dieser seltsamen Handlung mit meiner Kamera fotografierte. Er sah, dass ich ihn fotografierte und nickte mir zu, als würde es ihm sogar gefallen. Etwas später stand ich neben ihm in der Klosteranlage während der Führung im Plantaturm, wo er ebenso aufmerksam den Ausführungen der Kunsthistorikerin folgte wie wir anderen und gleichzeitig fotografierte, ohne eine Kamera in seinen Händen zu halten. „Bitte ohne Blitz“, hatte die Kunsthistorikerin gebeten. Und wir anderen hielten uns ebenso daran wie auch er. Die anderen zwinkerten sich zu, es war klar, was sie vom Fotografen hielten, der ununterbrochen Aufnahmen machte. Ich weiss nicht, warum niemand von uns sich getraute, den Mann zu fragen, weshalb er sich so auffällig, so seltsam verhalte. Als die Führung vorbei war, sah ich ihn wieder, wie er die Grabsteine im Friedhof vor der alten Kirche fotografierte.

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Eisbrecher

Antrittsvorlesungen sind ihre Spezialität. Das sind die öffentlichen Vorlesungen, mit denen sich neue, meist junge, Dozenten an der Universität oder an der Technischen Hochschule erstmals dem Kollegium und den Studierenden präsentieren. Sie treten immer zu zweit auf. Und sie fallen auf. Ihn nennen sie an der Uni „die Fliege“, sie heisst wegen den hochgesteckten Haaren „die Dutt“. Und das ist durchaus liebevoll gemeint. Denn sie sind ein liebenswürdiges Paar, das die Dozenten mögen. Sie fallen auf, weil sie extravagant gekleidet sind. Ein weisses Blatt Papier liegt vor ihm, er macht seine Notizen mit einem exquisiten Caran d’Ache Füllfederhalter. Sie macht ihre Notizen auf losen Blättern stets mit frisch gespitzten Bleistiften der Marke Faber-Castell . Sie schreiben intensiv mit. Und sie stellen in der anschliessenden Fragerunde Fragen, es sind immer präzise, wohlformulierte Fragen. Und sie machen während der Vorlesung Bilder. Man hat sich an der Universität und an der Technischen Hochschule schon längst daran gewöhnt, dass sie manchmal sogar gleichzeitig fotografieren. Ein Student hat ihnen allerdings zeigen müssen, wie man mit dem Handy lautlos fotografieren kann, ohne das Klicken oder Summen der Kamera zu hören. Sie sind die sogenannten Eisbrecher. Kaum ist die Vorlesung vorbei, sind sie die ersten. Immer. Sie stellen die ersten Fragen. Mal sie als erste und er als zweiter. Mal umgekehrt. Kaum dass die neue Dozentin oder der neue Professor mit dem Vortrag fertig ist, schaut der jeweilige Dekan die beiden an, hebt die Hand in ihre Richtung und schon kommt die erste Frage, frei vorgetragen ohne einen Blick in ihre Notizen. Die Spannweite ihrer Vorlesungsbesuche ist erstaunlich: „Anti- und Meta-Madrigale: Musik über Musik 
im frühen 17. Jahrhundert“, „Wildtiere als Reservoir für Hunde- und Katzenparasiten: Ein Fass ohne Boden?“, „Head in a spin: exploring the brain with MRI“ und „Wir und unsere Gefühle – wie unser Gehirn damit umgeht“ waren die Themen der letzten Woche. Eine Woche zuvor sassen sie an der Technischen Hochschule zu „Sustainable agroecosystems – from theory to practice“, „Die Bauhausarchitektur und ihr Einfluss auf die israelische Moderne“ sowie „Menschengemachte Erdbeben: Ein Fluch oder ein Segen?“. Es ist klar, dass sie sich immer wieder auf einzelne Themen vorbereiten, denn anders ist es nicht zu erklären, dass sie nach der Vorlesung über menschengemachte Erdbeben präzise Fragen über die Geothermieprojekte an der Sitter in St.Gallen oder nach der Vorlesung über Bauhaus in Israel Ausführungen über die Villa Weizmann in Rechowot und über die Villa und Bibliothek von Salman Schocken in Jerusalem machen konnten, die im Vortrag nicht einmal erwähnt worden waren. Beim anschliessenden Umtrunk sind sie immer dabei, unterhalten sich mit den Studenten und Dozenten. Die Bilder, die sie mit ihren Smartphones gemacht haben, zeigen sie aber nie. Nur soviel hat Fliege verraten: Demnächst wird es einen Blog, eine kommentierte Galerie neuer Professorinnen und Professoren, im Netz geben.

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