Orangenernte

Damals im Winter durfte ich jedes Jahr für zwei Wochen aufs Land. Zwei Wochen lang aushelfen bei der Zitronen- und Orangenernte. Am frühen Morgen schon lagen die runden Bastkörbe zwischen den Baumreihen bereit, wir Kinder durften die Früchte pflücken und mussten sie sorgfältig in die Körbe legen. „Nicht werfen!“, rief der Aufseher uns zu. Ich wohnte bei meinem Onkel, einem Schulpsychologen, der jeden Morgen mit dem Bus in die Stadt zur Arbeit fuhr. Nach dem Frühstück fuhren mein Cousin, meine Cousine und ich mit den Fahrrädern zu den Orangenhainen am Dorfrand, wir lehnten die Fahrräder an einen Baum und begannen mit den anderen Dorfkindern, die Orangen zu pflücken. „Nicht werfen!“, rief der Aufseher wieder. Ein laut eingestellter Transistorradio lief die ganze Zeit, jede Stunde hörten wir die Nachrichten, dazwischen Popmusik, meistens Elvis, Little Richard und Pat Boone, unterbrochen von Meldungen über ein Attentat an der jordanischen Grenze oder über einen Angriff auf ein Dorf im Süden. Zweimal am Vormittag durften wir eine Pause einlegen, meine Tante kam jeweils gegen zehn Uhr mit dem Rad und brachte Getränke und belegte Brote für uns alle. Um 7 Uhr früh war jeweils Arbeitsbeginn, um 12 Uhr konnten wir aufhören. Am Nachmittag trafen wir uns alle wieder vor der Dorfmolkerei, dort, wo der Bus aus der Stadt alle paar Stunden anhielt. Der Fahrer brachte einen Postsack und die Tageszeitungen oder Pakete mit, kaum jemals stiegen Passagiere aus. Wir unternahmen am Nachmittag Fahrradrennen, wir spielten auf dem Platz vor der Molkerei, die älteren Jungens rauchten hinter dem Haus. Am späteren Nachmittag kamen die Bauern von den Höfen mit ihren Milchkarren, auf denen zwei oder drei grosse Milchkannen standen. Sie luden sie an der Rampe ab, wir streichelten die Pferde, die die Milchkarren zogen, die Jungens vom Dorf durften manchmal mit einem Pferdegespann eine Runde vor der Molkerei drehen. Wie ich sie beneidete. Ein einziger Bauer brachte jeweils die Milchkannen mit einem dreirädrigen blauen Vespa-Lieferfahrzeug zur Molkerei. Wir Kinder bewunderten diesen Bauern. Selten nahm er einen von uns in seinem laut ratternden Rollermobil mit nach Hause: Einer von uns sass in der engen Fahrerkabine neben ihm während sein Fahrrad auf der kleinen Ladefläche lag. Auf der anderen Seite des weiten Platzes vor der Molkerei stand die einzige Telefonzelle des Dorfs, vor der manchmal eine oder zwei Personen warteten, weil jemand ein längeres Telefongespräch führte. Es konnte vorkommen, dass einer der Wartenden ungeduldig an der Glastür klopfte und laut rief: „Jetzt bist du seit fünfzehn Minuten am Telefon, das reicht nun aber!“. Weilten meine Eltern für längere Zeit im Ausland, wusste ich, dass ich am Freitag um 15 Uhr vor der Telefonzelle auf das Läuten des Telefons warten sollte, weil meine Eltern mich anrufen würden. Sie meldeten sich dann von einem Hotel aus oder von der Hauptpost: „Wir sind in München. Das ist eine grosse Stadt“. Oder: „Wir sind heute früh in Hamburg angekommen, hier sieht man viele Schiffe im Hafen“, schrie meine Mutter ins Telefon. Sie schrie, weil sie dachte, sie sei so weit weg und ich könnte sie wegen der Entfernung nur schlecht hören. „Wo sind deine Eltern jetzt?“, fragten mich die Dorfkinder und ich log: „Sie sind in Paris“. Oder: „Sie sind in Rom“. Nie hätte ich mich damals getraut zu sagen, dass meine Eltern in Deutschland weilten.

Vor einem Jahr bin ich mit einem Mietwagen wieder ins Dorf meines längst verstorbenen Onkels gefahren. Dort, wo in meiner Kindheit die Molkerei war, steht jetzt ein kleines Einkaufszentrum. Auf dem Parkplatz davor stehen immer viele Autos, die Telefonzelle ist verschwunden, hier haben alle ein Handy. Durch die Baumreihen der Orangenhaine bewegen sich heute Fahrzeuge mit Ladeflächen und Förderbändern, die von palästinensischen oder philippinischen Fremdarbeitern bedient werden. Bauern wohnen keine mehr im Dorf, wer hier lebt, arbeitet in der Stadt und verlässt frühmorgens das Dorf mit dem Auto. Die frühere Dorfschule wurde geschlossen, dafür hält ein regionaler Schulbus vor dem Einkaufszentrum, der die Schüler in die Stadt bringt.

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Eine Antwort zu Orangenernte

  1. ER sagt:

    Die Orangen blühen nicht nur, sie reifen auch… und der Garten wird immer prächtiger. Ein Klappstuhl ist da und eine nackte Frau, auch ein Radio. Was will man mehr, als sich noch Notizen zu machen und Bücher auszuleihen. ER

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