Zimmer mit Aussicht

Aufgeräumt muss es sein, wenn sie sich an ihre Arbeit macht. Unordnung würde sie ablenken. Sie mag es geordnet. In jeder Hinsicht. Ihr Schreibtisch ist erstaunlich klein. Eine Blume, eine Teekanne, eine Schale mit Keksen und ihre Farbstifte, mehr darf es nicht sein. Pünktlich um 9 setzt sie sich an ihren Schreibtisch. Wenn sich der Wecker um 12 Uhr meldet, dann ist die Zeit für die erste Pause gekommen. Nein, sie kocht nicht, mittags geht sie spazieren. Eine Stunde lang. Und immer ist es derselbe Weg. Am Fischteich entlang, den Hang bis zur halben Höhe hinauf, von wo sie ihr Haus und ihr Arbeitszimmer sieht. Sie lässt das Licht an, vom gegenüberliegenden Hang aus schaut sie hinüber, sieht die Lampe auf ihrem Arbeitstisch leuchten, jetzt zieht es sie wieder zurück. Kurz nach eins ist sie wieder zu Hause. Zeit für ein Stück Brot, mehr soll es nicht sein. Von 14 Uhr bis 17 Uhr schreibt sie weiter. Sie blickt hinaus und schreibt über eine Landschaft, die weit weg liegt. Es ist die Landschaft ihrer Kindheit. Sie ist in einem Bauernhaus aufgewachsen. Bücher gab es kaum im Haus. Sie kann sich an eine Hausbibel erinnern und an ein dickes Telefonbuch. Und an den Bauernkalender. Werktags sass man beim Essen in der Küche, nur an Sonntagen assen sie im Wohnzimmer am grossen Tisch. Sonntag war der Tag, an dem ihr Vater stets ein weisses Hemd trug. Es war jede Woche dasselbe Hemd, das Mutter am Montag von Hand wusch und am Mittwoch bügelte. Am Sonntag wurden die schönen Teller aus dem Geschirrschrank geholt. Und das Silberbesteck, aus Mutters Mitgift. Gäste gab es keine. Nur die beiden Tanten, die beiden unverheirateten, die im selben Dorf wohnten, sassen ein Mal im Monat mit am Tisch. Immer am ersten Sonntag im Monat. Nur dann. Jung waren die beiden Tanten nie gewesen. In ihrer Erinnerung sind sie beide alte Damen, beide immer etwas unzufrieden. Die Zeit auf dem Hof ist längst vorbei. Der Hof verkauft, das Erbe verteilt. Alle zwei oder drei Jahre sucht sie das Dorf ihrer Kindheit auf. Der elterliche Hof ist umgebaut worden. Heute wohnen am Wochenende Städter im Haus. Der alte Traktor ist noch geblieben. Die neuen Besitzer haben ihn auffrischen lassen, gefahren wird der grüne Traktor, der hinter dem haus auf dem Parkplatz steht, nicht mehr. Gestern beschrieb sie einen Spaziergang von einst. Sie geht mit einem Gedichtband den Hügel hinauf zur Kapelle, sie setzt sich unter dem Vordach hin, lernt wieder ein Gedicht auswendig. Sie will Schauspielerin werden. Oder Lehrerin. Sie will weg von diesem Bauernhaus. Sie will nicht im Stall arbeiten, sie will keine Äpfel oder Kirschen pflücken müssen. Nie mehr. Das schreibt sie Jahrzehnte später in ihrem neuen Haus. Es ist wieder ein Haus auf dem Land, ein neues Haus in einem Dorf. Nie hätte sie gedacht, dass sie wieder auf dem Land leben würde. Sie beschreibt eine frühere Zeit, die es heute gar nicht mehr gibt. Sonntags in der Kirche. Im Herbst der Viehmarkt im Nachbardorf. Viehhändler Bollag kommt im Text vor. Der Jude. Sie beschreibt den Schulweg im Winter. Damals lag noch Schnee auf der Strasse. Sie beschreibt auch eine Erinnerung, die nicht ihre Erinnerung sein kann. Vaters erste Frau, die Mutter ihrer beiden Halbgeschwister, ist auf dem Weg ins Nachbardorf überfahren worden. Es ist die Tante, die sie nie gekannt hat. Mutters Schwester.

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2 Antworten zu Zimmer mit Aussicht

  1. Albert Reifler sagt:

    Der Tisch dieser Autorin strahlt etwas Einsamkeit aus. Ob sie wohl ihren Computer nach dem Schreiben verstaut. Oder schreibt sie mit dem Füllfederhalter?9

  2. inge reisinger sagt:

    sie ist nicht einsam diese autorin, sie schreibt mit computer und buntstiften und füllfeder und bleistiften dann gibt es keine NSAüberwachung und auch sonst keine überwachung denn es verheddert sich jeder in diesen buchstaben

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