Esther mag Blumen. Gartenarbeit mag sie nicht. Esther mag Blumensträusse. Sie mag sie einen Tag lang. Es können auch zwei Tage sein, allerhöchstens drei. Esther hat einen Geruchssinn wie sonst keiner in meinem Freundeskreis. Es genügt, wenn ich einen Bissen Marzipan gegessen habe: Esther muss mich nicht einmal küssen, um mich zu fragen, ob ich heute Marzipan genascht hätte. Du hast ein neues Shampoo, sagt sie. Dabei sitze ich im Wohnzimmer und sie kommt gerade zur Wohnungstür hinein, sieht mich noch nicht einmal. Esthers Geruchssinn kann beängstigen. Wer hat dich geküsst, hat sie mich schon gefragt. Drei Freundschaftsküsse waren es bloss gewesen. Esther kann kein neuer Geruch entkommen. Esther kann mit Ekel reagieren, wenn man in ihrer Nähe einen Apfel schält. Noch bevor sie im Mülleimer landen, stecke ich Schalenreste von Aepfeln in kleine Plastiksäcke. Ich will Esther nicht unnötig ärgern. Wirkliche Probleme stellen eigentlich nur Blumensträusse. Esther liebt Blumensträusse. Am Dienstag begleite ich Esther gewiss an vierzig Wochen im Jahr an den Blumen- und Gemüsemarkt. Ich schenke Esther jedes Mal einen Blumenstrauss. Esther liebt runde Blumensträusse. Ranunkeln sind ihre Liebelingsblumen. Und Pfingstrosen. Einzig Tulpen kommen uns nicht ins Haus. Wir haben eine wunderbare Vasenkollektion. Wie schön die frischen Bluensträusse im Wohnzimmer aussehen. Wie wunderbar passend die Blumenvasen. Diese Bouquets sind eine Freude. Und sie sind ein Problem. Spätestens am Donnerstagabend wird der am Dienstag zusammengestellte Blumenstrauss aus dem Wohnzimmer verbannt. Ich kann diesen Duft nicht mehr riechen, klagt Esther. Esthers Nase reagiert bereits auf allerfeinste Spuren von Verwesung. Stelle bitte die Blumen in dein Arbeitszimmer, bittet sie mich dann. Auf meinem Schreibtisch bleiben die Blumen dann noch bis am Sonntag oder sogar bis am Montag. Nein, du sollst mir nicht am Freitag einen neuen Blumenstrauss kaufen, hat mir Esther schon wiederholt gesagt. Deshalb fotografiere ich jedes Blumenbouquet, das wir uns von der Floristin zusammenstellen lassen. Ich fotografiere ihn noch am ersten Tag, wenn die Farben der Blumen noch leuchten. Kaum ist der Blumenstrauss auf meinem Schreibtisch und aus dem Wohnzimmer verbannt, leuchtet er Esther vom grossen Digitalbildschirm im Wohnzimmer entgegen. Ich habe mittlerweile eine grosse Kollektion von Blumensträussen. Sie duften nicht, sie stinken nicht, sie verwesen nicht. Es sind Stilleben, die ein holländischer Maler im Goldenen Zeitalter der Niederlande hätte gemalt haben können. Jeweils von Donnerstag bis Sonntagabend oder Montagmorgen steht der auf dem Blumenmarkt gekaufte Blumenstrauss zweimal in unserer Wohnung. Am Dienstag sind wir frühmorgens wieder auf dem Markt anzutreffen.
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Ob jetzt dieser Blog wieder etwas belebter wird? Die Abstände zwischen den einzelnen Beiträgen waren lange ziemlich eng. Irgendwann vor einem halben Jahr (?) wurden sie stets länger. Weshalb wohl? Keine Zeit? Andere Beschäftigungen? Kene Ideen? Blogger kennen das Phänomen der Blogmüdigkeit. Es gibt sie auf beiden Seiten: Bei den Bloggern und bei den Followern. A.I.