Bildersüchtig sei er nicht, behauptet Max. Eher bilderbesessen. Den Unterschied zwischen süchtig und besessen kann er allerdings nicht erklären. Max hat stets eine Kamera bei sich. Manchmal sind es sogar zwei Kameras, die er in seinem Stadtrucksack mit sich trägt. Eine kleine und lautlose Kamera sowie eine grosse, deren Verschluss wirklich alles andere als diskret ist. Es gibt wohl keinen Tag, an dem Max nicht fotografieren würde. Tausende von Bildern hat er schon gemacht. Früher mit analogen Kameras, heute macht er nur noch digitale Fotografien. Wie soll ich denn meine Bilder ordnen, fragt Max. Er weiss es nicht. Nach Themen? Nach Orten? Soll er einen Ordner mit Porträts einrichten? Seine Bilder sind chronologisch angeordnet. Wenn er ein bestimmtes Bild sucht, muss er sich am Bildschirm durch Monate und Jahre durcharbeiten. Max behauptete lange Zeit, dass er von jedem Bild, das er aufgenommen hat, weiss, wo es aufgenommen wurde. Mittlerweile weiss er, dass das nicht stimmt. Max hat Lieblingsmotive. Handschuhe, die liegengelassen wurden. Alte Reklametafeln, am liebsten solche in Email, die man heute noch in Frankreich und Italien antreffen kann. Oder Lieferwagen von früher. Das können VW-Kastenwagen sein oder jene Citroen-Transporter Typ H, die wie fahrende Wellblechschränke aussehen. Übernachtet er in einem Hotel, dann fotografiert er morgens noch dem Aufstehen das Bettzeug so wie es liegengeblieben ist, nachdem er aufgestanden ist. Max ist ein Serienfotograf. Und gerade diese Serienbilder sind sein Problem. Er hat schon so häufig in Hotels übernachtet, dass er die Daunendecken, Leintücher und die Bettüberwürfe nicht mehr lokalisieren kann. Das ist mit seinen Aufnahmen, die er von alten Autos der Marken Austin und Renault gemacht hat, nicht anders. Manchmal verwechselt er aber auch Architekturaufnahmen. Er schaut sich ein Bild von einem Haus an und weiss nicht mehr, ob er das Bild in Aachen oder Düsseldorf aufgenommen hat. Kürzlich hat er wieder Fotografien von mehreren Bilderserien auf Papier ausdrucken lassen, weil er in einer kleinen Galerie Fotos zeigen konnte. Und weil er der Bitte der Galeristin nachkommen wollte, versah er jede Fotografie mit einer Legende. Amsterdam. Lille. Dresden. Basel. Freiburg. York. Ihm fielen nur Städtenamen ein. Dieses Bild kann unmöglich aus Turin stammen, sagte Esther. Und dieses Bild hast du doch in Bregenz aufgenommen. Ganz bestimmt, ich weiss es, ich war doch dabei! Esther hat wirklich ein gutes, sogar ein sehr gutes Gedächtnis. Aber weil er die Liste mit den Bildlegenden schon fertig geschrieben hatte, mochte Max nicht auf ihre Kritik eingehen. Du wirst noch unangenehme Überraschungen erleben, wenn dir jemand auf die Schliche kommt, sagte Esther. Du kannst unmöglich ein Bild, das du auf dem Bahnsteig im Bahnhof in Zürich aufgenommen hast mit der Legende Mainz versehen, irgendjemand wird ganz bestimmt nachweisen können, dass das Bild nicht in Zürich aufgenommen wurde. Max ist ein Technikfreak. Allerdings versteht er nicht viel vom Innenleben technischer Neuheiten. Liest er in der Zeitung, dass eine neue Kamera zu kaufen ist, die noch besser ist als eine seiner beiden Kameras, dann bleibt er vor den Schaufenstern Fotoläden stehen, schaut sich neue Modelle lange an, lässt sie sich manchmal sogar von einem Verkäufer vorführen. Eine neue Kamera kauft er trotzdem nicht, weil er davon überzeugt ist, dass es eher auf die Sujets ankommt, auf das Entdeckte und Gesehene und weniger auf ein neues Gehäuse, auf noch mehr Pixel oder auf eine neue Optik. Esther kennt diesen Blick in die Schaufenster von Fotoläden. Und sie weiss, dass er sich noch lange keine neue Kamera kaufen wird. Vor kurzem hat sie Max überrascht. Sie hatte von einer daumengrossen Kamera gelesen, der „Narrative Clip“ aus Schweden, die man sich am Revers, am Gurt, am Hut oder am Helm anmachen kann. Einmal in Gang gesetzt macht diese Miniaturkamera alle 30 Sekunden ein Bild. Lautlos. Jetzt dokumentiert Max seine Tage mit dieser tragbaren Minikamera. Als ich kürzlich bei Max zu Besuch war, erzählte er mir von dieser Kamera und gebrauchte mehrmals den Ausdruck „Automatic Lifelogging Camera“. Als ich wieder zuhause ankam und meinen Computer hochfuhr, waren die Bilder schon da. Ich sah mich, wie ich bei ihm am Tisch sitze und ihn anschaue, 240 Mal ich an seinem Tisch. Bemerkt hatte ich nicht, wie ich aufgenommen wurde. Dabei ist mir jetzt klar, dass es dieses kleine Etwas war, das an der Hemdtasche von Max gesteckt haben muss. Als ich Max anrief und mich mit ihm über die neue Minikamera unterhielt, meinte er, ihm sei unklar, wie er diese Bilder archivieren sollen, wo doch diese Kleinstkamera eine Unmenge verschiedener Bilder im Laufe des Tages gemacht habe. Er müsste jetzt für jeden Tag ein Verzeichnis anlegen, wie soll und wann soll er das bewältigen? Ich glaube, Max ist doch bildersüchtig, wenn ich mir vorstelle, dass er jetzt tagsüber die Minikamera am Revers seiner Jacke trägt.