Bekanntmachung

BekanntmachungJede Woche besuchen Heinz Egger und Michael Guggenheimer einen Buchort. Das kann eine Buchhandlung sein, eine Bibliothek, ein Buchantiquariat, ein Veranstaltungsort, in dem es um Bücher und Gedrucktes geht. Sie beschreiben den Ort in Wort und Bild. Was in und mit Zürich begonnen hat, wird mittlerweile ausgeweitet. Bereits dreimal haben Sie vor Publikum einen Auftritt mit Buchort gehabt.

Besuchen Sie Buchort. Nichts einfacher als das: http://buchort.ch/

 

 

 

 

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Im Val Müstair

Spätestens dann wenn der Walensee zu sehen ist, beginnen für die beiden aus Tel Aviv die Ferien. Sie sitzen jedes Jahr in Fahrtrichtung links und sie wissen mittlerweile, dass die hohen Berge auf der anderen Seeseite Churfirsten heissen. Viermal müssen sie wieder umsteigen, was sie aber nicht stört. Ganz im Gegenteil. So kommt nämlich Feriengefühl erst recht auf. Bis Landquart sitzen sie im Oberdeck. Der Zug müsste für sie gar nicht so schnell fahren, so sehr lieben sie diese Berge. Früher sind sie alle zwei Jahre ins Oberengadin gefahren. Aber irgendwann fanden sie das Engadin zu touristisch, zu mondän. Und auch zu teuer. Wie gemächlich diese Fahrt mit der roten Schmalspurbahn ist. Dass manche Passagiere bei diesen Ausblicken lesen können, verstehen sie nicht, werden sie nie verstehen können, wo es hier stets so viel zu sehen gibt. Jedesmal staunen sie über das viele Grün, über die Wälder, über die Wasserfälle. Bei ihnen zuhause sind die Felder im Juni schon gelb. Wie sie die Kurven lieben, die der langsame Zug nimmt. Sie sitzen im hintersten Wagen und sehen immer wieder die Lok ganz vorne in der Kurve. Wie sie beim ersten Mal gestaunt haben, als über Lautsprecher eine Hostess angekündigt wurde, die mit einem Korb mit Prospekten und einem Holzbrett, auf dem Wurstscheiben lagen, vorbeikam. Schweizer Schokolade oder Käse hätten sie gerne genommen. Aber doch kein Fleisch. Denn man weiss nie, ob diese Wurst aus Schweinefleisch hergestellt wird. Beim letzten Mal haben sie eine arabische Familie im Zug beobachten können, die ebenso misstrauisch die Wurstscheiben angeschaut hat.

An einem Bahnhalt, zu dem kein Dorf zu gehören scheint, steigen sie wieder um, um am Schluss jene Fahrt im gelben Bus zu machen, von der sie zuhause allen Freunden schon geschwärmt haben. Wie dieser Bergpass täuscht: Nach einer Steigung geht es hinunter. Wer zum ersten Mal mit dem gelben Bus unterwegs ist, meint, jetzt sei die Passfahrt fast vorbei, um dann darüber zu staunen, dass es nochmals tüchtig hinauf geht. Perfekt ist die Fahrt erst dann, wenn der Buschauffeur auf dem Weg von der Passhöhe ins Tal hinunter bei einer Haarnadelkurve das Tüta ertönen lässt. Einmal haben sie den Chauffeur sogar darum gebeten.

Sie haben in Tel Aviv Freunde, die nicht verstehen können, dass sie in diesem ruhigen Tal, in dem es kein Kino, kein Casino und kein Grand Hotel gibt, zwei Wochen verbringen können. Sie aber lieben gerade diese Ruhe. „Was brauchen wir mehr als tagsüber eine Busverbindung, die jede Stunde alle Dörfer des Tals bedient?“, sagt Dan. Sie haben ihre Rituale: Zum ersten Tag gehört der Spaziergang am Bach entlang von Sta Maria nach Müstair. Die Damen am Empfang im Kloster und die Verkäuferin im Käseladen in Müstair erkennen die beiden nach zwei Jahren wieder. „So etwas ist uns woanders noch nie passiert“, sagen sie. Eine Wanderung zum Pass Umbrail und eine weitere zum Lai da Rims stehen regelmässig auf dem Programm. Andere Wanderer begrüssen die beiden mit bun di und allegra. Und sie mögen die Ausdrücke grazia fich und ai revair besonders. Jedes Jahr mieten sie Räder und begeben sich auf einen zwei- bis dreitägigen Ausflug bis nach Meran oder Bozen. Auf die Idee, im Tal Fahrräder zu mieten, sind sie auf eine seltsame Weise gekommen. Vom Postbus aus hatten sie die Tafel einer Radvermietung an der Strasse gesehen, die den ihnen vertrauten Namen Zion trug. Dass der Vermieter überhaupt kein Jude war, mit dem Heiligen Land auch gar nichts zu tun hatte, spielte dann keine Rolle. „Stellt euch vor, da hat einer eine Fahrradvermietung und ein Reisebüro, er nennt seine Firma Zion und ist kein Jude“, haben sie zuhause Freunden erzählt. „Wie kann jemand freiwillig seine Firma Zion nennen, wo die ganze Welt die Juden nicht mag“. Sie werden in diesem Sommer wiederkommen. Und sie werden feststellen, dass die Fahrradvermietung ihren Namen nicht verändert hat. Das kleine Museum in der Mitte des Tals, auf das ein Freund vor der letzten Reise in die Schweiz aufmerksam gemacht hat, werden sie auch dieses Jahr im August besuchen. Vor einem Jahr haben sie dort Konzerte gehört, an drei Abenden hintereinander, Musik von einem Komponisten, dessen Namen sie nicht einmal kannten. „Wunderbar, unvergessliche Musik“, sagt Noemi.

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Full Breakfast

Full BreaakfastBed & Breakfast in England. Morgens ab 8 Uhr. Früher mögen’s die Gastgeber lieber nicht. Full Breakfast heisst das Frühstück. Den Beginn des kompletten Frühstücks bildet ein Fruchtsaft oder eine halbe Grapefruit, für die es besondere, einseitig gezahnte Löffelchen gibt. Auch Prunes, Dörrpflaumen in Saft oder Stewed Fruit, Kompott, sind möglich. Dann folgen die Cereals, meist Cornflakes, wahlweise auch stets im Angebot warmer Haferbrei für Erwachsene meist ungesüßt, aber auf Verlangen auch mit Lyles Golden Syrup. Manche Gastgeber bieten auch Müslimischungen an. All das ist bloss die Ouvertüre. Denn jetzt folgt der Hauptgang des full breakfast oder warm breakfast mit echt Schwergewichtigem wie gebratenem Frühstücksspeck, kleinen, ebenfalls gebratenen Würstchen, Spiegel- oder Rühreiern und oft auch gegrillten Tomaten und gebratenen Champignons, manchmal in Scheiben. Alle Zutaten werden zusammen auf einem Teller serviert. Zum Würzen gibt es „Brown Sauce“ der Marke HP mit einem Bild der Houses of Parliament in London auf der Flasche, eine würzig-saure braune Sauce mit der Konsistenz von Tomaten-Ketchup. Schreck: Auch Senf und Ketchup aus der quetschbaren Plastikflasche sind als Zusätze beliebt. Aus den USA gekommene Baked Beans, warme weiße Bohnen in Tomatensoße, meist aus der Dose, und sogenannte Hash Browns, ein Kartoffelgericht ähnlich dem Schweizer Rösti als dehydriertes Halbfertigprodukt im Karton sowie als tiefgefrorenes Fertigprodukt auf dem Markt, sind in den letzten Jahrzehnten ebenfalls häufig geworden. In einigen Gegenden, zum Beispiel Yorkshire und Lancashire, gehört zum englischen Frühstück unbedingt auch Black Pudding, eine in Scheiben geschnittene und gebratene Blutwurst. White Pudding ohne das Blut, aus Schweinefleisch und -fett, Talg, Brot und Hafermehl, ist hingegen hauptsächlich in Irland, aber auch in Schottland zu finden. Anstelle des Frühstücksspecks sind Kippers, gesalzene Räucherherringe oder auch Cod gelegentlich Teil eines englischen Frühstücks. Begleitet wird das Frühstück von Toast und in der Regel, inzwischen jedoch durchaus nicht mehr allgemein, von schwarzem Tee, der zumeist mit Milch getrunken wird, wenn es nicht der aromatisierte Earl Grey ist, der allerdings nicht als Frühstückstee gilt. Zusätzlich zum obligatorischen Toast wird manchmal fried bread gereicht, das ist in der Pfanne geröstetes Brot, auch in Ei als French toast. Den Abschluss des Frühstücks bilden eine weitere Tasse Tee sowie Toast mit gesalzener Butter und Marmelade aus Orangen, Zitronen oder Limetten „Marmalade“ gibt es in verschiedenen Ausführungen, mit viel oder wenig Schale, bitter-süß („Olde English Thick Cut Marmalade“), säuerlich oder süß. Konfitüren (jam) gelten hingegen in der etikettebewussten sozialen Mittelschicht als Verstoß gegen englische Frühstückstradition. Habe ich etwas vergessen? Ach ja: Weshalb ist das englische Brot, ob White oder Brown, so pappig, so knetbar weich, so wattig? Und ich gebe zu: Mir ist ein Frühstück im Bistro um die Ecke an der Rue Keller in Paris lieber. Aber nichts gegen die englische Landschaft!!

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A bientôt

MittagessenHerausforderungen annehmen. Besonders wenn man älter wird. Der Berater von der „Stiftung für das Alter“ hatte mich auf meine „Kapazitäten und Ressourcen“ angesprochen. Und er wiederholte: „Sie sollten Herausforderungen annehmen. Besonders jetzt, wo Sie älter werden.“ Ich könnte mich doch jede Woche für einen Tag als Fahrer eines Behindertentaxis anstellen lassen. Freiwillig natürlich. Oder im nahen Schulhaus jeden Dienstag ausländischen Kindern bei ihren Aufgaben helfen. Ob ich nicht im Altersheim Betagten vorlesen möchte? Ich sei doch literarisch interessiert. Auch als Wanderführer bei nicht zu schwierigen Wanderungen könnte er sich mich gut vorstellen. Ich solle die Gefahr nicht unterschätzen, die uns Senioren drohe: Der Rückzug in die Stille sei besonders bei alleinstehenden Älteren ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Ich hatte mir seine Vorschläge etwas gelangweilt angehört und nicht einmal die vorgeschlagene Arbeit am Buffet des Museums für Gestaltung vermochte mich aus der Reserve zu locken. „Sie mögen doch Museen. Und Design interesiert Sie. Ihre Fremdsprachenkenntnisse könnten Sie dort bestens einsetzen“. Das Wort Fremdsprachenkenntnisse war es, das mich weiterbrachte. Auf der Strasse fiel es mir wieder ein. Max hatte mir nach einem Besuch in Paris davon erzählt, dass in der französischen Metropole ambulante Restaurants Mittagmenüs anbieten. Meine „soziale Ader“, die der Berater mehrmals erwähnt hatte und meine Lust, endlich wieder meine brachliegenden Französischkenntnisse aufzufrischen, setzten Energien frei. Vor zwei Wochen war es so weit: Nach einem zweitägigen Praktikum als Begleiter im vierzehnten Arrondissement unter der Führung von Emile Durand beginne ich am kommenden Montag meinen Einsatz bei „Vélissime – Le Savoir-frais“. Vormittags um 11 Uhr hole ich dann an fünf Tagen in der Wohe mein Transportfahrrad samt Anhänger bei der Küche von Vélissime in einem Hof an der Rue Louis David ab, ziehe mich vor dem Wegfahren noch um, um dann an der Rue Jean Goujon vor einem modernen Bürohaus meinen Standplatz einzunehmen. Es gibt Umsatzbeteiligung! Und das schwarze Fahrrad ist ein E-Bike! Jeden Tag werde ich während drei Wochen den Angestellten und Passanten ein kleines Menü mit kühlen Getränken anbieten. Und wenn der Umsatz stimmt, kann ich bis Ende Oktober jeden Monat drei Wochen lang gegen Entgelt und inmitten von Franzosen arbeiten. Wie ich mich darauf freue. Am kommenden Montag, so steht es auf meinem kleinen Menüplan gibt es als Entrée ein Oeuf poché sur coulis de tomate und als Hauptgericht Crumble de cabillaud au lait de coco, courgettes au curry et écrasé de pomme de terre. Unglaubich was der Anhänger alles fasst, unerhört die Kreativität der französischen Küche: Wem der Hauptgang am Montag nicht passt, dem bietet Vélissime als Alternativen eine Salade de petit épautre, feuille de chêne, bresaola et tomate an oder Caponata d’aubergines au poulet, olives vertes et riz. Ich gebe es zu: Mein Französisch ist holprig, ich muss im Dictionnaire noch nachschauen, was ich da genau anbiete. Aber ich freue mich auf meine Herausforderung als Senior: Während andere Alte unmögliche Fernstreckenwanderungen unternehmen, um ihren Alltag sinnvoll zu füllen, mache ich etwas wirklich Sinnvolles und frische mein Französisch auf. Kommt mich doch besuchen: 5. Rue Jean Goujon. Bis am 4. Juli jeweils montags bis freitags. A bientôt!

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Reserviert

Please waitNachdem die Putzequipe das Lokal verlässt, kommen die Kellner. Die Köche sind dann schon längst an der Arbeit. Die Tische werden schon früh für das Mittagessen gedeckt. Weisse Tischtücher und Servietten, zwei Messer, zwei Gabeln und grosse Dessertlöffel, Weingläser und Wassergläser. Und überall noch die visitenkartengrossen kleinen Aufsteller mit der Aufschrift „Reserviert“. „Bitte warten, Sie werden an Ihren Tisch begleitet – Please wait until you’ll be seated“, steht an der Eingangstür des Restaurants. Und etwas weiter hinten ist ein Stehtisch, an dem der Chef de Service wartet und in einem dicken Journal die Namen der ankommenden Gäste mit der Reservationsliste vergleicht. Auch heute sind längst nicht alle Tische reserviert. Aber das müssen die Gäste nicht wissen. „Tut mir leid, wir sind ausgebucht“, sagt der Chef de Service den zwei Männern, die sich gerne an einen Tisch setzen möchten. „Aber da sind noch eine ganze Menge unbesetzte Tische“, sagt der eine Mann. „Fully booked, so sorry“, sagt der Mann hinter dem Stehtisch. Und wohl um seine Weltgewandtheit zu zeigen, fügt er spitz an „Désolé messieurs“. Ihm passen die beiden Männer nicht. Der eine hat eine helle Windjacke über den etwas altmodisch wirkenden Sakko angezogen, der andere trägt eine etwas billig aussehende Lederjacke. Die beiden passen ihm nicht, sie passen nicht zu den anderen Gästen, findet er. Er hat vergessen, dass er die beiden Männer bereits vorgestern abgewiesen hat. Es kommen einfach zu viele Menschen hier vorbei, er kann sich nicht alle Gesichter merken. Sie aber wissen genau, dass er sie schon vorgestern hat auflaufen lassen. Heute werden sie sich das nicht gefallen lassen, weshalb sie einfach am Chef de Service vorgehen und sich an einen der freien Tische hinsetzen und den Zettel mit dem Aufdruck „Reserviert“ vom Tisch wegnehmen und der etwas älter wirkende Herr mit der Lederjacke in eine seiner Jackentaschen einsteckt. „Wir können Sie leider nicht bedienen, der Tisch ist reserviert“, sagt ihnen ein Kellner, den der Chef de Service zu ihnen geschickt hat. Sie sind bereit, sich an einen anderen Tisch zu setzen. Sie seien flexibel, sagt der Mann in der hellen Windjacke. Sie bleiben sitzen und warten auf die Gäste, die angeblich ihren Tisch reserviert haben. Doch es kommt keiner. Auch kommt kein Kellner mehr zu ihnen. Der Lederjackenmann steht auf und holt sich vom Buffet zwei Speisekarten. Und weil kein Kellner zu ihnen kommt, um ihre Bestellungen aufzunehmen, steht der Windjackenmann auf und ruft laut, so laut, dass es alle im Lokal hören: „Zwei Mal Weizenbier, zwei gemischte Salate, zwei Beefsteak Tartar scharf mit Cognac“. Und weil kein Kellner Anstalten macht, um ihre Bestellung aufzunehmen, wiederholt er ihre Bestellung nach wenigen Minuten nochmals und nochmals und wieder, worauf eine Unruhe unter den Gästen entsteht und mehrere Gäste beim Chef de Service es durchsetzten, dass die beiden Männer dann doch noch bedient werden. Sie werden wortlos bedient. Sie essen sich durch vom Salat über das Hauptgericht bis hin zum Dessert. Und als sie die Rechnung verlangen, kommt einer der Kellner zu ihnen und teilt ihnen mit, dass ein Herr an einem der Nebentische ihre Rechnung beglichen habe. Bedanken können sie sich nicht, denn der Herr ist schon längst weg. Sie werden wieder kommen, sagen die beiden dem Kellner. Sie werden es tun. Und sie werden nicht minder laut sein, sollten sie wieder abgewiesen werden.

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Auf nach Paris

Immer wenn ich die Liste der Ausstellungen anschaue, die in Paris gezeigt werden, denke ich, ich sollte wieder hin. Nein, ich müsste wieder hin. Eine einzige Ausstellung am Tag? Zu wenig. Im Centre Pompidou noch eine Woche lang Henri Cartier-Bresson. Gut, ich weiss, diese Sonderausstellungen im obersten Stockwerk des Kulturbollwerks sind überlaufen, die Luft dort ist schlecht, vor lauter Besuchern werde ich die Fotos nicht sehen können. Aber dann entdecke ich, dass Martial Raysse ebenfalls im Pompidou gezeigt wird, dieser Maler-Bildhauer-Installationskünstler zwischen Fischli-Weiss und Tinguely, zwischen dem Isländer Erro und Niki de Saint Phalle ist zwar in den letzten Jahren etwas kitschig geworden. Aber ich müsste hin. Die etwas süsslich gewordenen Werke ab 2007 könnte ich ja sein lassen. Am ersten Tag also die beiden: Cartier-Bresson und Raysse. Ein Blick ins Pompidou-Programm sagt aber, dass ich am folgenden Tag nochmals hin müsste: Bernard Tschumi zuerst. Und dann könnte ich mir Christian Marclays Installation „The Clock“ anschauen, endlich. Denn in Zürich habe ich Marclay verpasst. Genau so verpasst wie alle die vielen anderen Ausstellungen zuhause. Offenbar müsste ich wirklich wegfahren, weil ich mir auswärts mehr Zeit nehme für Ausstellungen. Ich muss also wieder nach Paris. Gut so, Tschumi und Marclay am zweiten Tag. Für „The Clock“ muss man sich Zeit nehmen. Das sagte schon Marie-Hélène, die im Gegensatz zu mir die Schau in Zürich nicht verpasst hat. Mari-Hélène verpasst nie Ausstellungen. Wie macht sie das bloss, frage ich mich manchmal. Die beiden ersten Ausstellungstage sind also bereits verplant. Und dann entdecke ich, dass das „Grand Palais“ Bill Viola zeigt. Der Satz im Museumsprogramm, wonach man sich im Internet bereits die Karte für einen ganz bestimmten Zeitslot besorgen sollte, schreckt mich nicht ab. Und weil sie dort auch noch Ilya Kabakovs „L’Etrange Cité“ ausstellen, bleibe ich gleich im „Grand Palais“, womit der dritte Tag bereits fixiert wäre. Politische Aktualität muss auch sein. Also auf am vierten Tag ins Musée d’art moderne de la Ville de Paris zur Ausstellung „Unbearbeitete Geschichte – Iran 1960 – 2014“, die mir die Süddeutsche Zeitung am vergangenen Wochenende ans Herz gelegt hat. Und weil das Palais de Tokyo gleich nebenan ist, muss ich noch einen Blick in die neue Ausstellung von Thomas Hirschhorn werfen. Ob da wieder jemand einen ehemaligen Schweizer Bundesrat anpinkelt? Ein Blick in den „Pariscop – L’incontournable des vos sorties“, den ich manchmal aus reiner Neugierde am Zürcher Hauptbahnhof kaufe, überzeugt mich, dass ich Verdis „La Traviata“ in der Opéra de la Bastille unbedingt besuchen müsste. La Traviata war die erste Oper, die ich in meinem Leben gesehen habe. Und weil bald 60 Jahre seit der Premiere von La Traviata verstrichen sind, wird’ ich hingehen. Egal was es koste. Leider lese ich aber im Figaro, dass alle Aufführungen bis Ende Juni ausverkauft sind. Restkarten sind an der Abendkasse ab 18.30 Uhr zu haben, wobei die Schlange der Wartenden aber ab 16.30 Uhr schon so lang sei, dass es sich eher lohne, sich andernorts nach Karten umzuschauen. Gut, dass ich gehört habe, dass alle Aufführungen von Macbeth in der Regie von Ariane Mnouchkine in der Cartoucherie bis Saisonende bereits vier Stunden nach Eröffnung des Vorverkaufs ausverkauft waren. Ein Blick ins Netz macht klar, dass auch „The Valley of Astonishment“ in der Regie von Peter Brook im Theater „Bouffes du Nord“ total ausverkauft ist. Man sollte nach Paris, sagte Esther ja kürzlich. Eigentlich sagte sie, man sollte WIEDER nach Paris. Dabei waren wir noch nie zu zweit in Paris. Ich schau’ nochmals die Liste der Ausstellungen an, die ich verpassen könnte. Sie hört nicht auf: Im Institut du Monde arabe wird gerade die Ausstellung „Il était une fois l’Orient Express“ gezeigt. Welch’ eine Versuchung! Und anschliessend ein Besuch im Hamam. Und nachmittags noch als thematische Fortsetzung die Nackten und Schönen von Robert Mapplethorpe im Musée Rodin anschauen. Man müsste hin. Aber man müsste Zeit haben. Wochenlang.
Wenn aber die Wartezeit vor den grossen Ausstellungen bis zu 50 Minuten dauert, das Gedränge in den Museumssälen so dicht ist und die wirklich wichtigen Theateraufführungen alle ausverkauft sind? Mir fallen alle die Pariser Hotelzimmer ein, die ich kenne. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie die Hotels hiessen. Aber ich weiss ganz genau, dass jedes dieser Zimmer so klein war wie eine Besenkammer. Die Frühstücksräume waren nie grösser als Kinderzimmer und die Hotelfrühstücke waren jedesmal überzahlt. Jetzt lege ich die Zeitungen mit den Ausstellungshinweisen zur Seite, surfe noch etwas im Netz und beschliesse, ein anderes Mal nach Paris zu fahren. Am besten dann, wenn die Touristensaison vorbei ist….Wann war das schon wieder?

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Fächerhalle

Hubert wohnt in einem Dorf. Er hat Glück. Hubert ist ein leidenschaftlicher Leser. Aber so viel lesen wie er Bücher kauft, kann er nicht, schafft er nicht. Wenn ich pensioniert sein werde, werde ich Zeit haben, alle Zeit dieser Welt für meine Bücher. Das hat Hubert in all den Jahren immer wieder gesagt, in denen er am Gymnasium unterrichtet hat. Vor drei Jahren ist er pensioniert worden. Und noch immer kauft er mehr Bücher ein als er lesen kann. Hubert hat Glück. Eine Erbschaft hat es ihm ermöglicht, neben dem Einfamilienhaus, in dem er mit seiner Frau lebt, einen Anbau erstellen zu lassen. Huberts Bücher sind seit zwei Jahren in einer Art Dependance. Im ersten Stock seines Wohnhauses führt eine Tür ins Nebenhaus, wohin Huberts Bücherwelt umgezogen ist. Hubert weiss nicht genau, wie viele Bücher er besitzt. 20 000 werden es sein, vielleicht noch mal 5000, sagt er. Hubert weiss ganz genau, wo welche Bücher stehen. Zeitgenössische Schweizer Autoren? Kein Problem. Exilliteratur der Jahre 1933 bis 1945? Schon steht er neben einem voll beladenen Bücherregal bei den Büchern der Exilautoren. Besonders stolz ist Hubert über eine Wand mit psychoanalytischer Literatur. Eine Bibliothekskartei führt Hubert nicht. Zwei Mannjahre, sagt er, müsste wohl eine gelernte Bibliothekarin investieren, um alle Titel aufzunehmen und zu katalogisieren. Hubert leiht seine Bücher Freunden aus. Einen Leihzettel müssen sie ausfüllen. Und sich in ein Heft mit Namen, Titel des ausgeliehenen Buchs und Datum eintragen. Ich werde sie doch nicht alle lesen können, hat mir Hubert bei meinem letzten Besuch im Annex gesagt. Zwei Jahre nach seiner Pensionierung ist sein Bücherhaus hoffnungslos voll. Die Bücher bilden mittlerweile viele kleine Türme auf dem Boden seines Bücherhauses. Ich muss Bücher entsorgen, hat er mir gesagt. Aber er bringt es nicht über sein Herz, Bücher wegzugeben. Lege sie doch der Altpapiersammlung bei, habe ich ihm vorgeschlagen. Geht nicht, hat er geantwortet. Bring sie der Dorfbibliothek, lautete mein nächster Vorschlag. Unmöglich. Denn was würden da die Bibliothekarinnen sagen, die ihn kennen. Als ich ihm vorschlug, in der kalten Jahreszeit Bücher in den Kachelofen zu schieben, da warf er mir Nazimethoden vor. Wir haben trotzdem einen Weg gefunden, um Platz für neue Ankäufe zu schaffen. Jeden Mittwoch besuche ich Hubert. Wir trinken einen Tee, essen Kuchen und unterhalten uns. Nach zwei Stunden verlasse ich Huberts Haus. Jedes Mal mit einer Einkaufstüte. Zehn Bücher pro Besuch, lautet unsere Abmachung. Ich bin Huberts Buchentsorger. Denn Hubert bringt es nicht fertig, Bücher aus seinem Haus zu weisen. Hubert will nicht wissen, wohin ich die Bücher trage, wem ich sie gebe. Ich verlasse jeweils sein Haus, begebe mich zur Post, wo ich die Fächerhalle betrete und dort auf dem Tisch, auf dem die Postfachbenützer ihre Post sortieren, Huberts Bücher hinlege. Zu Beginn habe ich einen Zettel hingelegt, auf dem „Zum mitnehmen“ geschrieben stand. Mittlerweile muss ich das nicht mehr. Die Benutzer der Fächerhalle scheinen sich an die Bücher gewöhnt zu haben. Aus reiner Neugierde komme ich jeweils am nächsten Tag wieder vorbei, um nachzuschauen, ob Huberts Bücher noch daliegen. Manchmal bleibt ein Buch liegen, das ich mitnehme, um es dann in der Strassenbahn auf dem Nebensitz liegen zu lassen.

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Bildersucht

MiniBildersüchtig sei er nicht, behauptet Max. Eher bilderbesessen. Den Unterschied zwischen süchtig und besessen kann er allerdings nicht erklären. Max hat stets eine Kamera bei sich. Manchmal sind es sogar zwei Kameras, die er in seinem Stadtrucksack mit sich trägt. Eine kleine und lautlose Kamera sowie eine grosse, deren Verschluss wirklich alles andere als diskret ist. Es gibt wohl keinen Tag, an dem Max nicht fotografieren würde. Tausende von Bildern hat er schon gemacht. Früher mit analogen Kameras, heute macht er nur noch digitale Fotografien. Wie soll ich denn meine Bilder ordnen, fragt Max. Er weiss es nicht. Nach Themen? Nach Orten? Soll er einen Ordner mit Porträts einrichten? Seine Bilder sind chronologisch angeordnet. Wenn er ein bestimmtes Bild sucht, muss er sich am Bildschirm durch Monate und Jahre durcharbeiten. Max behauptete lange Zeit, dass er von jedem Bild, das er aufgenommen hat, weiss, wo es aufgenommen wurde. Mittlerweile weiss er, dass das nicht stimmt. Max hat Lieblingsmotive. Handschuhe, die liegengelassen wurden. Alte Reklametafeln, am liebsten solche in Email, die man heute noch in Frankreich und Italien antreffen kann. Oder Lieferwagen von früher. Das können VW-Kastenwagen sein oder jene Citroen-Transporter Typ H, die wie fahrende Wellblechschränke aussehen. Übernachtet er in einem Hotel, dann fotografiert er morgens noch dem Aufstehen das Bettzeug so wie es liegengeblieben ist, nachdem er aufgestanden ist. Max ist ein Serienfotograf. Und gerade diese Serienbilder sind sein Problem. Er hat schon so häufig in Hotels übernachtet, dass er die Daunendecken, Leintücher und die Bettüberwürfe nicht mehr lokalisieren kann. Das ist mit seinen Aufnahmen, die er von alten Autos der Marken Austin und Renault gemacht hat, nicht anders. Manchmal verwechselt er aber auch Architekturaufnahmen. Er schaut sich ein Bild von einem Haus an und weiss nicht mehr, ob er das Bild in Aachen oder Düsseldorf aufgenommen hat. Kürzlich hat er wieder Fotografien von mehreren Bilderserien auf Papier ausdrucken lassen, weil er in einer kleinen Galerie Fotos zeigen konnte. Und weil er der Bitte der Galeristin nachkommen wollte, versah er jede Fotografie mit einer Legende. Amsterdam. Lille. Dresden. Basel. Freiburg. York. Ihm fielen nur Städtenamen ein. Dieses Bild kann unmöglich aus Turin stammen, sagte Esther. Und dieses Bild hast du doch in Bregenz aufgenommen. Ganz bestimmt, ich weiss es, ich war doch dabei! Esther hat wirklich ein gutes, sogar ein sehr gutes Gedächtnis. Aber weil er die Liste mit den Bildlegenden schon fertig geschrieben hatte, mochte Max nicht auf ihre Kritik eingehen. Du wirst noch unangenehme Überraschungen erleben, wenn dir jemand auf die Schliche kommt, sagte Esther. Du kannst unmöglich ein Bild, das du auf dem Bahnsteig im Bahnhof in Zürich aufgenommen hast mit der Legende Mainz versehen, irgendjemand wird ganz bestimmt nachweisen können, dass das Bild nicht in Zürich aufgenommen wurde. Max ist ein Technikfreak. Allerdings versteht er nicht viel vom Innenleben technischer Neuheiten. Liest er in der Zeitung, dass eine neue Kamera zu kaufen ist, die noch besser ist als eine seiner beiden Kameras, dann bleibt er vor den Schaufenstern Fotoläden stehen, schaut sich neue Modelle lange an, lässt sie sich manchmal sogar von einem Verkäufer vorführen. Eine neue Kamera kauft er trotzdem nicht, weil er davon überzeugt ist, dass es eher auf die Sujets ankommt, auf das Entdeckte und Gesehene und weniger auf ein neues Gehäuse, auf noch mehr Pixel oder auf eine neue Optik. Esther kennt diesen Blick in die Schaufenster von Fotoläden. Und sie weiss, dass er sich noch lange keine neue Kamera kaufen wird. Vor kurzem hat sie Max überrascht. Sie hatte von einer daumengrossen Kamera gelesen, der „Narrative Clip“ aus Schweden, die man sich am Revers, am Gurt, am Hut oder am Helm anmachen kann. Einmal in Gang gesetzt macht diese Miniaturkamera alle 30 Sekunden ein Bild. Lautlos. Jetzt dokumentiert Max seine Tage mit dieser tragbaren Minikamera. Als ich kürzlich bei Max zu Besuch war, erzählte er mir von dieser Kamera und gebrauchte mehrmals den Ausdruck „Automatic Lifelogging Camera“. Als ich wieder zuhause ankam und meinen Computer hochfuhr, waren die Bilder schon da. Ich sah mich, wie ich bei ihm am Tisch sitze und ihn anschaue, 240 Mal ich an seinem Tisch. Bemerkt hatte ich nicht, wie ich aufgenommen wurde. Dabei ist mir jetzt klar, dass es dieses kleine Etwas war, das an der Hemdtasche von Max gesteckt haben muss. Als ich Max anrief und mich mit ihm über die neue Minikamera unterhielt, meinte er, ihm sei unklar, wie er diese Bilder archivieren sollen, wo doch diese Kleinstkamera eine Unmenge verschiedener Bilder im Laufe des Tages gemacht habe. Er müsste jetzt für jeden Tag ein Verzeichnis anlegen, wie soll und wann soll er das bewältigen? Ich glaube, Max ist doch bildersüchtig, wenn ich mir vorstelle, dass er jetzt tagsüber die Minikamera am Revers seiner Jacke trägt.

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Hut tragen!

Ich stand in den Unterhosen da, weil der Assistenzarzt meine Haut untersuchen musste. Mit der Lupe schaute er sie sich ganz genau an. Dass er noch meine Lymphdrüsen in den Achselhöhlen und in der Leistengegend betasten würde, wusste ich von früheren Untersuchungen her. Einmal im Jahr kommt die schriftliche Aufforderung, mich zur Sprechstunde anzumelden. „Alles negativ. Also positiv“, sagte er und lächelte. Aber meine Kopfhaut wolle er noch der Oberärztin zeigen. Er setzte sich, um die Befunde zu tippen, rief das Sekretariat der Abteilung an, um die Oberärztin herbeizurufen und machte sich weiter am Computer zu schaffen. Ich sass da und wusste nicht, wohin ich schauen, was ich tun sollte. Fünf Minuten vergingen und der Assistenzarzt hatte all das geschrieben, was nach der kurzen Untersuchung zu schreiben war. „Wir warten nur noch etwas, es geht bestimmt nicht lange“, sagte er. Wieder machte er sich am Computer zu schaffen. Ich weiss nicht, ob er jetzt bei Facebook war oder sonst am Surfen. Es vergingen weitere 5 Minuten. Wir schauten uns etwas verlegen an. „Ich habe heute nicht meinen besten Tag“, sagte er, „ich bin nicht sehr gesprächig.“ Ich schwieg und wusste nicht, ob ich mich am Handy zu schaffen machen oder die Zeitung aus dem Rucksack herausholen sollte, um die Zeit bis zur Ankunft der Ärztin zu verkürzen. „Weshalb haben Sie einen schlechten Tag erwischt?“, fragte ich ihn. Nein, das könne er nicht sagen. Ob ich aus der Ostschweiz käme, lautete seine Frage. Wir wechselten einige knappe Sätze über Bern, seine Heimat, und über Zürich. Jetzt sass ich ihm schon seit fünfzehn Warteminuten gegenüber und die Oberärztin war immer noch nicht gekommen, um meine Kopfhaut in Augenschein zu nehmen. „Sie sollten unbedingt eine Kopfbedeckung tragen“. Weisser Hautkrebs sei zwar nicht gefährlich. Aber trotzdem. „Der weisse Hautkrebs wird gern als kosmetisches Problem oder Alterserscheinung abgetan. Dabei sollte man ihn ernst nehmen. Im schlimmsten Fall greift er sogar die Knochen an, oder es entstehen Ableger“, warnte er und fügte an: „Sie kommt bestimmt gleich“. „Lesen Sie gerne?“, fragte ich ihn. „Ich darf Ihnen gar nicht sagen, wann ich zum letzten Mal ein Buch gelesen habe, weshalb fragen Sie?“. Ich erzählte ihm von meiner Leseleidenschaft. Nein, er schaue sich lieber Wissenschaftssendungen am Fernsehen an. Als das Gespräch stockte, stand er auf, entschuldigte sich und verliess das kleine Ordinationszimmer, um die Oberärztin zu suchen. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und begann den Raum zu fotografieren. Nach drei oder vier Minuten kam er wieder, nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte eine vierstellige Nummer, ich hörte es Läuten, ein langes Läuten ohne Resultat. „Woody Allen würde unsere Situation jetzt filmen“, sagte ich dem Assistenzarzt. Ob er Filme von Woody Allen kenne. Nein, aber seine Mutter hätte den letzten gesehen. Ich schaute auf meine Uhr. Seit einer halben Stunde warteten wir auf die Oberärztin. Jetzt wählte er eine andere Nummer, ich hörte eine Männerstimme auf der anderen Seite. Er erkundigte sich in Französisch, ob die Oberärztin ihn wohl vergessen hätte. Weiter warten. „Sie sind weit in der Welt herumgekommen“, meinte er, worauf ich relativierte, denn ich war noch nie in Afrika und in Lateinamerika gewesen, geschweige denn in Australien oder in Fernost. „Es tut mir leid“ sagte er, „das kommt sonst wirklich nicht vor, dass man in unserer Klinik so lange warten muss.“ Jetzt sass ich ihm schon seit dreissig Minuten gegenüber. Ich begann meine Mails abzurufen. Und ich nehme an, dass er das auch tat. „Wie lange soll ich noch warten“, fragte ich ungeduldig. Er wusste es nicht. Er stand auf. „Ich suche sie nochmals“. Wieder blieb ich alleine im Behandlungszimmer. Zehn Minuten vergingen, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand auf, öffnete die Tür, ging die Treppe zum Ausgang hinunter. Draussen vor der Klinik stand er neben dem Zierbrunnen und rauchte eine Zigarette. „Auf Wiedersehen“ rief er mir zu, „so etwas kommt bei uns wirklich nicht oft vor. Und vergessen Sie nicht, einen Hut oder eine Mütze zu tragen“.

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Fragen

TrainingMutter, du solltest dich von deinem Arzt untersuchen lassen, meinte Rolf, als Esther ihm erzählte, dass sie eine Verabredung bei ihrer Podologin schlicht vergessen hätte. Es war nicht das erste Mal in letzter Zeit, dass seine Mutter sich so vergesslich zeigte. Einige Wochen zuvor war sie mit ihm im Theaterrestaurant gewesen, wo sie eine langjährige frühere Kollegin, die am Nebentisch sass, nicht spontan wiedererkannte. Dann war da die peinliche Sache mit ihrem Schmuck. Die beiden Ringe und den Armreif hatte sie nicht finden können. Ich weiss nicht, wo ich meinen Schmuck hingelegt habe, sagte sie ihrem Sohn am Telefon. Erst am nächsten Morgen war ihr eingefallen, dass sie ihren Schmuck im kleinen Wertsachenfach im Hallenschwimmbad hatte liegen lassen. Wie hatte sie das bloss vergessen können?! Du solltest dich zum Gedächtnistraining anmelden, meinte ihr Sohn am Telefon. Sie wusste, dass bei diesen Trainings an der Volkshochschule ältere Menschen mit Memoryspielen, mit Zahlenreihen, Nacherzählungen und mit lästigen Quizfragen beschäftigt werden. Und dazu hatte sie wirklich keinerei Lust. Sie würde sich vor den anderen nur blamieren, davon war sie überzeugt. Dass etwas später gleich zwei eingeschriebene Mahnungen mit der Post eintrafen, weil sie schon wieder vergessen hatte, Rechnungen zu bezahlen, mochte sie ihrem Sohn nicht auch noch erzählen. Nach einigem Zögern meldete sie sich bei ihrem Hausarzt an, der sie an einen Neurologen überwies. Alles im Bereich des Altersüblichen, kein Grund zur Beunruhigung, lautete der Bescheid des Facharztes nach einer längeren Untersuchung. Es gibt Tage, an denen man vergesslich ist, sagte sie ihrem Sohn. Und sie schilderte ihm den Druck am Arbeitsplatz, der ihr mehr als früher zu schaffen machte. Als ihr Sohn einige Wochen später nach einem dreiwöchigen Urlaub in Marokko wieder zuhause war, da stellte sich heraus, dass er seine Kreditkarte, das Jahresabo der Bahn, die Mitgliedkarte des Fitnessklubs sowie die Jahreskarte des Hallenschwimmbads, die er zuhause gelassen hatte, trotz intensiver Suche nirgendwo in seiner Wohnung finden konnte. Stunden vor dem Abflug nach Marokko hatte er die Ausweise in einen Briefumschlag gesteckt und in seiner kleinen Wohnung versteckt. Daran konnte er sich noch ganz genau erinnern. Aber wo bloss hatte er den Umschlag versteckt? Sie wollte ihm helfen und stellte ihm Fragen: Vielleicht im Gefrierfach? In einem ganz bestimmten Buch im Bücherregal? Unter den Teesäckchen in der Teedose? Er winkte ab, er hatte schon überall gesucht. Im Gefrierfach, in seinen Lieblingsbüchern, in der Teedose, unter dem Stretchleintuch, im Kopfkissenbezug. Alle Hemden hatte er aus dem Kleiderschrank herausgeholt. Vergebens. Ihm fiel nicht mehr ein, wo der Umschlag mit den Ausweisen sein könnte. Den Geschirrschrank hatte er schon zweimal ausgeräumt, unter den beiden Berberteppichen war das Couvert ebensowenig zu finden. Lass’ mich suchen, sagte Esther ihrem Sohn, der seine Ausweise auch zwei Wochen nach seiner Rückkehr immer noch nicht gefunden hatte. Und auch nachdem er sich neue Ausweise hatte ausstellen lassen, wollte es ihm nicht in den Sinn kommen, wo er das Couvert versteckt hatte. Die Ausweise gestohlen hatte niemand, das war klar, weil in den Wochen seit seiner Reise auf dem Konto seiner Mastercard keine Bewegungen vermerkt waren. Jetzt war sie es, die den Satz sagte: Du solltest dich vielleicht von deinem Arzt untersuchen lassen. Nur widerwillig und ohne es seiner Mutter zu sagen, suchte er einen Neurologen auf, dessen Assistentin ihn im Rahmen einer Testfolge zunächst bat, das Alphabet rückwärts aufzusagen, was ihm ohne Mühe gelang. Anschliessend musste er sich merken, was auf der Fotografie eines Schaufensters zu sehen ist, um die Gegenstände aus dem Schaufenster mit geschlossenen Augen auswendig aufzuzählen. Und dann musste er eine Menge von Fragen beantworten: Was versteht man unter dem „Prager Frühling“?; Im April welchen Jahres kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zu einem folgenschweren Unfall?; Wofür steht der Ausdruck „Vormärz“?; Aus welchem Land stammt die Ostermarschbewegung, deren Teilnehmer etwa seit 1960 alljährlich für Abrüstung und eine friedliche Welt demonstrieren?; Was versteht man unter dem Begriff „Sommerloch“?; Welcher Tag ging als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte ein – als der Tag, an dem der Zusammenbruch der Börsenkurse in New York den Anfang der weltweiten Wirtschaftskrise signalisierte?; In welchem Jahr fand die Oktoberrevolution in Russland statt?; Wer erreichte am 14. Dezember 1911 als erster Mensch den Südpol? Vierzig Fragen waren es, die er nacheinander und recht schnell beantworten musste. In einem letzten Test musste er sich möglichst viele Namen aus einer Liste merken. Dreizehn Namen wies die Liste auf, drei konnte er sich merken, nicht mehr. Als er am Schluss der Testserie wieder dem Neurologen gegenüber sass, empfahl ihm dieser einen Gedächtnistrainingkurs mit zehn Lektionen in einer Gruppe. Nein, Sie müssen keine Angst haben, sagte ihm der Arzt, die anderen Teilnehmer werden keine Senioren sein. Seine Kreditkarte und die anderen Ausweise hat er allerdings auch nach den zehn Lektionen nicht mehr wiedergefunden.

 

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