Häuserbildner

Am unangenehmsten war ihm immer das Läuten an den Haustüren. Er hatte Angst vor dem skeptischen Blick, dem er womöglich nicht würde aufweichen können. Angst vor der Tür, die bei seinem Anblick sogleich wieder zugestossen werden könnte. Angst vor dem eigenen ersten Satz. Nicht immer konnte er sofort präzis sagen, weshalb er geläutet hat. Dabei hätte er stets denselben Satz sagen können. Es gab gute Tage und schlechte. Und er hätte nie im voraus sagen können, weshalb ein bestimmter Tag gut sein würde und ein anderer weniger gut. „Bidmon Photograph“ lautete die Aufschrift an den beiden Vordertüren seines Wagens, Photograph in altmodischer Schreibweise. Lieber so als die neuere Schreibweise „Fotograf“ fand er. Er war Häuserphotograph, manchmal verwendete er lieber den Ausdruck „Häuserbildner“. So verstand er sich, er fotografierte Häuser, am liebsten waren ihm jene Häuser, die etwas ungewöhnlich aussahen, die „etwas anders in der Landschaft stehen“, wie er gerne sagte. Die schwarze Leica trug er gut sichtbar mit sich, damit kein Zweifel aufkommen konnte. Er ging von einem Einfamilienhaus zum nächsten, läutete an der Tür, stellte sich vor. „Guten Tag, Samuel Bidmon, Häuserphotograph, ich habe kürzlich Ihr Haus fotografiert, hätten Sie Interesse an den Bildern?“. Und noch während er diesen Satz aussprach, öffnete er die grosse schwarze Zeigetasche, klappte die richtige Doppelseite auf, und zeigte der Hausbesitzerin oder dem Hausbesitzer zwei Farbbilder. „Sie müssen sich nicht jetzt entscheiden, ich komme am Samstag wieder vorbei, das Bild kostet dreissig, beide zusammen fünfzig, hier ist meine Visitenkarte“. Die Visitenkarte war wichtig, es war wichtig, dass man ihn erreichen konnte, es war wichtig, dass man das Wort „Häuserphotograph“ und die Adresse lesen konnte. Die Visitenkarten waren auch dann wichtig, wenn er mit der Kamera durch neue Wohngegenden unterwegs war, wenn er Material für die nächste Verkaufstour sammelte. „Hallo, Sie da, Was fällt Ihnen ein, mein Haus zu fotografieren?. Machen Sie, dass Sie hier fortkommen!“. Das war seine Angst. Angst davor, für einen Einbrecher auf Erkundungstour gehalten zu werden. Angst vor grossen Hunden. Er erledigte seine Arbeit systematisch, er erledigte Strasse für Strasse, Haus für Haus, seine Bilder waren mit gewöhnlichen Fassadenaufnahmen nicht zu vergleichen. Stets versuchte er, im Vordergrund noch ein Detail zu berücksichtigen, dem Bild eine Tiefenwirkung zu verleihen, die Abbildung der Umgebung eines Hauses war ihm ebenso wichtig. Die Kartei der fotografierten Häuser führte seine Frau, die auch die Buchhaltung und die Beschriftung auf der Rückseite der Bilder besorgte. Von jedem Haus erstellte er zwei Bilder, beide in Querformat. Einmal wurde er bei seiner Arbeit sogar fotografiert: Der Reporter eines Lokalblatts begleitete ihn während eines Vormittags bei seiner Arbeit. Den Artikel mit dem Bild trug er lange in seiner Zeigetasche mit. Konnte er seine Bilderpaare verkaufen, dann bot er sich noch als Photograph für Familienbilder und bei Familienanlässen an. Konfirmationen und Kommunionen, Hochzeit der Kinder, Ehejubiläen gehörten zu den Anlässen, die er nebenher bearbeitete. Nicht, dass er diese Anlässe etwa geliebt hätte. Eigentlich mochte er dieses Herumstehen in der Kirche nicht, er hasste es, von anderen bei der Arbeit genau beobachtet zu werden, er hasste die schreienden Babys, die süss lächelnden Paare beim Jawort, die Grossmütter und Grossväter, die von ihren erwachsenen Kindern, von den Enkeln und Urenkeln umringt sind, und die er alle im Sucher festhalten und hinter der Kamera aufmuntern musste. Seitdem Zeitschriften kaum mehr Bilder annahmen, war er dankbar für die Idee, als Häuserphotograph zu arbeiten, von der er mittlerweile nicht einmal mehr wusste, dass seine Frau sie gehabt hatte. Er lernte so Häuser, Wohnzimmer und Hausbewohner kennen. Er hätte bald schon ein Buch über die Wohnungen dieser Menschen veröffentlichen können. Erst nach seinem Tod merkten wir, dass Samuel Bidmon, Photograph von Hunderten von Häusern, es unterlassen hatte, ein Haus zu fotografieren: Sein Haus findet sich auf keinem Bild.

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