Marokko „gemacht“

In Aachen ist er los, 38 Tage hat er mit dem Rad gebraucht, bis er in Paimpol in der Bretagne angekommen ist, wo er mich vor einem Zeitungskiosk anspricht. Und dabei ist er noch lange nicht am Ziel. Er ist unterwegs nach Bordeaux. Es ist Sommer, es hat am Tag zuvor und in der Nacht wieder ununterbrochen geregnet, so ist das Wetter in der Bretagne. Er fährt durch die Bretagne und hält mir eine Autokarte entgegen, ich soll ihm sagen, wie es weiter gehe nach Lanion. Er kann kein Französisch und ich frage ihn, wie er gemerkt hat, dass ich kein Franzose sei. Er spüre das. Aber erklären, wie er einem Passanten ansehen kann, dass er Deutsch spricht, kann er nicht. Umso erstaunlicher als ich gerade aus einem Zeitungsladen komme und zwei französische Tageszeitungen in der Hand halte. Letzte Nacht hat er sein kleines Zelt an der Einfahrt von Paimpol aufgeschlagen. Eine unangenehme Nacht sei es gewesen, Jugendliche hätten nebenan bis morgens um drei laute Musik laufen lassen. Der Mann ist um die siebzig, Radfahren sei seine Leidenschaft. Er war schon in Bari und Brindisi, damals auch von Aachen aus. Und Königsberg hätte er auch schon „gemacht“. Ich schau ihn an, der Mann sieht unausgeschlafen aus, er ist unrasiert und wirkt ungewaschen. Ob er in meinem Hotel duschen möchte, frage ich ihn. Und als er ja sagt, bereue ich mein Angebot. Ich war wieder zu spontan und kann jetzt nicht mehr zurück. Er hat bei mir geduscht. Und er hat nach der Dusche dieselben verschwitzen Kleider angezogen, die er zuvor getragen hatte. Im Frühstücksraum hat er noch mit mir gegessen. Und dann ist er weiter geradelt. Zwei Seitentaschen vorne, zwei Seitentaschen hinten, auf dem Gepäckträger das kleine Zelt. Er ist nicht der einzige Langstreckenradler, der mir in diesen Tagen begegnet. Ein Ehepaar aus Colmar sitzt im Zug unterwegs von Marseille nach Hause. Sie sind vor sechs Wochen mit ihren schweren Cannondale Rädern in Wien gestartet, sind über den Reschenpass nach Italien und weiter nach Marseille. Die Strecke von Marseille das Rhonetal hinauf kennen sie schon, weshalb sie jetzt mit ihren Rädern in der Bahn unterwegs seien. Er ist 66, sie drei Jahre jünger. Franzosen, die noch von der ehedem in ihrem Land üblichen frühen Pensionierung profitiert haben. Mit 56 ging er in Rente, sie ist ehemalige Arztsekretärin, er arbeitete für einen Betrieb in der Lebensmittelbranche, „nichts hohes“, präzisiert er. Alle zwei Jahre sind sie auf Ferntouren mit ihren Rädern unterwegs. Angefangen haben sie mit der Strecke San Francisco – New York. Nicht umgekehrt, denn sie wollten vom Rückenwind profitieren, von dem sie gelesen hatten. Der Donauradweg sei von der Donauquelle bis Budapest spannend, nachher bis zum Schwarzen Meer nur noch langweilig. Der Elberadweg sei zu simpel, nichts für Kenner. Der Weg der Mosel entlang „charmant“. Sie suchten als Radfahrer die Herausforderung. Marokko hätten sie mit dem Rad „gemacht“. Und Ägypten auch schon. Als sie vor drei Jahren von Budapest her in Rumänien angekommen seien, hätten sie noch den Weg bis Istanbul unter die Räder genommen. Istanbul zum zweiten Mal. Sie sind schon von Colmar bis in die Mongolei mit den Rädern unterwegs gewesen. An der iranischen Grenze hätten sie den Sternenbanner, das US-amerikanische Zeichen auf dem Cannondale Fahrradrahmen, überkleben müssen, das hätten die Zöllner an der Grenze verlangt. Mühsam sei das Fahrradfahren im Iran gewesen, denn sie als Frau hätte einen Schleier tragen müssen. Auch bei der allergrössten Hitze. Fahrradwege? Nein, die suchen sie nicht. Auf Langstreckentouren müsse man sich an jene Strassen halten, die dem Fernverkehr dienen. Und damit es nicht zu gefährlich wird, haben sie unterwegs Rückspiegel an den Lenkern montiert, grosse Rückspiegel wie sie Vesparoller hätten, damit man die Gefahr auch rechtzeitig sehe, die überlangen Lastwagen, die die einzige wirkliche Gefahr auf der Strasse darstellten. Übernachtet wird auf Zeltplätzen. Für Hotels reichten die beiden Renten nicht. Einheimische, die sie zu einem Essen oder zu einer Übernachtung einladen könnten, versuchen sie zu meiden: Da könne man keine Speise ablehnen, müsse Geschenke mitnehmen, für die man unterwegs keine Verwendung finde. Ob sie nicht Lust hätten, nach all den vielen Radfahrten ein Buch über das Radfahren zu schreiben? Bloss das nicht! Es gebe schon so viele Radbücher. Sie wollen unterwegs sein, nicht schreiben. Aber eine eigene Site hätten sie im Netz. Mit Bildern und Texten für ihre Freunde. Als ich sie um die Adresse bitte, ruft der Zugschaffner Mulhouse aus, jetzt müssen die beiden in aller Eile ihre Fahrradtaschen und die Räder bereit machen, meine Visitenkarte haben sie eingesteckt, ihre Karte haben sie mir in der Hektik des Aufbruchs nicht geben können. Ich habe zu Hause am Computer alle Variationen ausprobiert, die Homepage der beiden habe ich nicht gefunden, dafür unendlich viele und detaillierte Reisevorschläge von Fahrrad-Langstreckenfahrern. Und immer die gleichen Bilder im Netz: Radfahrer vor den Pyramiden. Radfahrer vor der Hagia Sophia. Radfahrer vor der Chinesischen Mauer.

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Eine Antwort zu Marokko „gemacht“

  1. eva-maria sagt:

    vielleicht tun einige ja auch nur so als ob. an langen samstagen packen sie ihr bike in den zug, die taschen auch, verfledderte karten, abgegriffene trinkflaschen. denn sie wissen, bestimmt werden sie andere reisende kennen lernen und ihre reiseerlebnisse ausbreiten können. erzählen, wo sie schon überall waren. was für abenteuer sie schon überstanden hätten und kaum will man sich wirklich näher kennen lernen, muss man leider an der nächsten haltestelle raus. die räder bereit machen, die rücksäcke wieder zuschnüren und in der eile geht der austausch der adressen vergessen. dann stehen sie auf dem perron, der zug fährt weiter. „ein bisschen dick aufgetragen hast du vielleicht schon, mit dem schleier in irak.“ sie zuckt mit den achseln. schaut dann fragend. „noch ein paar stationen weiter oder retour nach hause?“ „ich hab lust auf einen kaffee“, meint er. „dann lassen wir die räder stehen. lass uns zu fuss in die kleine stadt laufen.“ so pendeln sie am wochenende zwischen 50 – 70 kilomenter hin und her. in den zügen mit den vielen reisenden. immer mit fahrrad. ohne wirklich je selber zu fahren.

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