Wir sassen auf dem Boden und sollten uns Reisgerichte auswählen. Es war Ellens Idee, ein indonesisches Restaurant aufzusuchen. Sie kannte sich aus, sie kannte Amsterdam mit seinen zahlreichen indonesischen und chinesischen Lokalen. Es ist wirklich fernöstlich, hatte sie gesagt. Dass es aber so fernöstlich sein würde, konnten wir nicht wissen. Ich hatte schon Mühe, mich auf dem Boden hinzusetzen, das Knacksgeräusch in meinem rechten Knie hörten die anderen nicht, nur ich meine jeweils, mein künstliches Kniegelenk zu hören. Und dann das andere, das nicht operierte Knie: Als ich schon sass überfiel mich die Angst, denn mir war nicht klar, wie ich mich von der tiefen Position am Boden wieder würde erheben können. Es gab keine Stuhllehne und keine Tischkante, an der ich mich würde festhalten, stützen können, ich würde es nicht alleine schaffen können, man würde mich nachher hochziehen müssen. Mir war heiss, mir brach der kalte Schweiss aus. Die anderen studierten die Speisekarte, lachten laut über die unaussprechlichen Bezeichnungen der Gerichte und merkten sich die gewählten Speisen anhand der Nummern, die vor jedem Gericht standen: 62, 35, 89. Zum ersten Mal war mir klar, weshalb die Gerichte in fast allen indonesischen und chinesischen Restaurants auch noch über Zahlen verfügen. Was nehmen Sie, fragte mich die zierliche Frau in ihrem glitzernd grünen Kostüm. Ich wusste es nicht, ich hatte die Speisekarte immer noch nicht angeschaut, ich spürte einen Schmerz in meinem kranken linken Knie, mich beschäftigte nur die Frage, wie ich mich wieder nach dem Essen aus dieser misslichen, tiefen Sitzsituation am Boden wieder würde befreien können. Die anderen bestellten chinesisches Tsingtao Bier, Ellen erzählte wortreich, dass das Rezept des besten Biers Chinas von deutschen Brauern nach China gebracht worden sei. Ich hörte die kleine Kellnerin die Worte Ikan Baker, Pepes Ayam, Temoe Goreng Tepung, Nasi Kuning und Chop Suey jeweils aussprechen, wenn die anderen ihre Zahlen nannten. Ich habe keinen Hunger sagte ich. Aber du hast doch vorher auch für ein indonesisches Lokal gestimmt, sagte Ellen. Ich begann mich zu schämen, obschon ich noch lange nicht aufstehen musste. Die anderen würden sehen, wie ich nicht in der Lage bin, aus einer so niederen Position aufzustehen. Jetzt begann das kranke Knie richtig zu schmerzen, weil ich mein Bein nicht ausstrecken konnte. Im Kino, im Flugzeug oder im Theater achte ich immer darauf, einen Platz zu ergattern, an dem ich mein linkes Bein ausstrecken kann. Es gab keine Richtung, in die ich das jetzt hätte tun können: Vor uns die ersten Reissschalen auf dem Boden, neben mir sassen Markus und Peter, links von mir Patrizia und Eva. Mir wurde eng, mich schmerzte mein arthritisches Knie, jetzt musste ich zu allem Übel noch die Toilette aufsuchen. Wer würde mich stützen können, wer würde mich aufrichten können. Ich würde dieses Sitzen auf dem Boden einfach aushalten müssen, auch wenn mein linkes Knie jetzt zu brennen schien. Weshalb musste Ellen ausgerechnet dieses Lokal auswählen? Ich verfluchte Ellen. Du bist kreidebleich, rief Ellen, die mir gegenüber sass, du bist so weiss wie der Reis hier. Ich sah die Holzfiguren, die an der Wand angemacht waren, sah ihren eindringlichen Blick, mit dem sie mich anzuschauen schienen. Der Wandschmuck fernöstlicher Restaurants hat immer etwas Befremdendes, Bedrohliches an sich. Eine Figur schien mich besonders penetrant anzuschauen. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich muss vor lauter Schmerzen in Ohnmacht gesunken sein. Ich habe weder Rindfleisch Süss-Sauer noch eine Reistafel nach Javanischer Art an diesem Abend gegessen, weder eine gebratene Bali Ente noch Dom Yam Gun Suppe, auch an die Frühlingsrollen, die ich so mag, kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiss nicht, wie lange die anderen noch auf dem Boden gesessen und diese Reisgerichte mit Rindfleisch, Schweinefleisch, Hühnerfleisch, Kernelnüssen, Bambussprossen und Sesamsamen gegessen haben, von denen sie am nächsten Tag noch geschwärmt haben.
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Das mag eine Eigenheit der fernöstlichen Küche in der westlichen Welt sein, daß die Gerichte aus Fernost mit Nummern gekennzeichnet werden. Gerne mache ich sie darauf aufmerksam, daß italienische Lokale in Japan ähnlich vorgehen: Die Pizzen in Japen sind für die Japaner (und viielleicht auch für die Chinesen) ebeneso unaussprechlich wie für uns Europäer dernen Gerichte. H.Lindner, Augsburg