Entermesser

Die erste Erinnerung an die Ankunft in der Schweiz. Vater arbeitet schon seit einigen Wochen bei der Niederlassung eines amerikanischen Konzerns. Es ist unser erster Besuch in seinem Büro. Vater führt Mutter und mich zum Aufzug, wir sollen uns mit ihm zum Hinterausgang des Geschäftshauses begeben, weil er uns etwas zeigen möchte. Wir schreiten zum asphaltierten Vorplatz, wo mehrere Autos geparkt sind, unter anderen Fahrzeugen steht da auch ein viertüriger dunkelblauer Oldsmobile Cutlass. Es ist das Direktionsauto mit Doppelscheinwerfern und leicht zurückgesetzten Positionsleuchten zwischen Haupt- und Fernscheinwerfern und einem breiten silbrig blinkendem Kühlergrill. Noch nie habe ich von nahem ein so grosses Auto bestaunen können. Welch ein Wagen: Ich blicke hinein und sehe diese kleinen silbrigen Knöpfe, mit denen sich die Fenster elektrisch senken und heben lassen! Und dann dieses grosse Lenkrad! Das Heck des Wagens bilden zwei flügelartige Erhebungen, es ist, als würde das Auto gleich wegfliegen können. Jedenfalls wirkt dieses Automobil stark. Und dann diese Heckleuchten, die länger sind als meine Arme! Das muss ein grossartiges Gefühl sein, wenn man mit diesem Auto unterwegs ist! Hinter dem vornehm dunkelblauen Strassenkreuzer steht eine kleine, weisse Renault Dauphine, man sieht sie kaum. Das ist Vaters Überraschung: Wir haben ein Auto, Vater hat ein Auto gekauft, es ist unser erstes Auto und wir wussten es nicht, haben es nicht geahnt. Ich freue mich und bin gleichzeitig masslos enttäuscht. Ein Auto mit einem Heckmotor. Nur schwache Autos haben Heckmotoren, davon bin ich überzeugt. Und diese Autos sind so laut. Unser Auto, nein es ist Vaters Auto, besitzt vorne und hinten hässliche Rundungen. Die Scheinwerfer wirken wie Glubschaugen und der Motor verfügt bloss über klägliche drei Gänge! Weshalb haben wir einen Wagen, dessen Name so kraftlos klingt, wenn er wenigstens einen besseren Namen hätte! Cutlass, ich weiss es von den ‚Classics Illustrated’, heisst Entermesser! Welch ein Name! Vaters Wagen wirkt in seinen Formen weiblich, es ist kein kantiges Fahrzeug, das Stärke ausstrahlt. Hätte Vater bloss einen englischen Vauxhall gekauft. Oder noch lieber einen Amerikaner mit Automatik und Kickdown. Weshalb hat er keinen Engländer gekauft? Franzosenautos sind doch Rostkisten. Davon bin ich überzeugt. Unser Wagen hat eine lächerliche Stockschaltung und dann noch diese Seitenblinker! Alles wirkt billig an ihm, Lichtschalter und Blinkerhebel aus Plastik, die Sonnenblenden nicht gefüttert, der Motor ist laut, und die Scheibenwischer sehen aus, als würden sie keinem richtigen Regen trotzen können. Ob man mit einer Dauphine überhaupt andere Autos überholen kann? Und dann diese lächerlichen Polster! Der Oldsmobile Cutlass nebenan hat Lederpolster und dann sehe ich noch, dass sein Dach geöffnet werden kann!

Die zweite Erinnerung an unser erstes Auto. Wir kommen von einer Fahrt mit der Dauphine zurück zu den Parkplätzen hinter dem Bürogebäude als der dunkelblaue Oldsmobile Cutlass leise zum Parkplatz gleitet. Der Motor scheint zu flüstern, der schwere Wagen scheint zu schweben. Ein Mann in dunkelblauem Anzug, weissem Hemd und Krawatte steigt aus dem Amischlitten aus und meine Mutter begrüsst ihn überhöflich, sie meint, der Mann sei ein Mitglied der Direktion, gewiss ein Vorgesetzter meines Vaters. Dabei ist es der Direktionschauffeur, der sich gerade daran macht, den Wagen mit Karosseriepolitur auf Hochglanz zu trimmen.

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4 Antworten zu Entermesser

  1. airelav sagt:

    voll der männertext. autos, autos, autos!!!

    • Regula Ehrliholzer sagt:

      hallo airelav, ist ironisch gemeint, der kommentar, oder? dass die autos nur ein vehikel, ein transportmittel für ganz andere themen sind, ist doch wohl offensichtlich. kindliche wahrnehmung, die prägungen der zeit, die familiengeschichte. was war die autofrage wichtig! das ist keine männer-frauen-geschichte, eher eine generationen-geschichte. die langsame bremsung der begeisterung fürs auto hat erst viel später eingesetzt, mit den autofreien sonntagen zu zeiten der ölkrise, als man zur feier der befreiung des asphalts mit rollschuhen auf der autobahn fuhr. dass er aber gerade dieses vehikel auswählt, lässt darauf schliessen, dass er tatsächlich gerne männertexte schreibt … hat wohl schon etwas, von beidem … gibt es überhaupt männertexte? gibt es geschlechtslose texte? ich erinnere mich an die sache mit dem vorratsschrank meiner grossmutter in mols: der schrank war voll mit bisquits. dunkle waffeln mit schokolade, helle waffeln mit zitrone. von den einen durfte ich essen, von den anderen nicht. die einen seinen männerguezli, hiess es. aber ich erinnere mich nicht mehr, welche dies waren. ich erinnere mich nur noch an die absurdität dieser einteilung.

  2. Regula Ehrliholzer sagt:

    Ein hellblauer Peugeot 404. Auf den Dach des Autos sitzen zwei kleine Mädchen, vielleicht sieben und vier Jahre alt. Im Hintergrund das Panorama der Churfirstenkette, Vater fotografiert diese Komposition. Die drei sind unterwegs zum Tannenboden, zur Augustfeier. Nein, die vier, der Peugeot gehört mit zur Familie. Es wird das einzige Mal gewesen sein, dass sie ihren Vater hat tanzen sehen. Im Dunkeln auf dem grossen Platz, Lichter ringsum. Eines Morgens geht der Vater Milch kaufen. Retour kommt er mit einem weissen Peugeot 504. Es sei eine gute Gelegenheit gewesen. Mir gefiel dieses Auto überhaupt nicht, vor allem die blasse Farbe und die aufgeweichte Form, als hätte er den Liter Milch zu einem Auto umgegossen. Von nun an war man auf alles gefasst, auch wenn er sagte, „ich gehe Zigaretten holen, ihr bekommt eine Ansichtskarte, ich weiss noch nicht von wo“. Ging dieser Ankündigung eine kollektive Beschimpfung des Weiberhaushaltes voran, war mir besonders bange, es könnte wahr sein.

  3. emamil sagt:

    Unser erstes Auto war ein Peugeot. Keine Ahnung welche genauere Bezeichnung. In meiner Erinnerung ein riesiges, klobiges Auto. Sumpfgrün, das trifft die Farbe wohl am besten. Wir Kinder sind im Innern versunken. Und hatten alle Platz. Obwohl wir doch zu sechst waren. Eng nebeneinander sassen wir und immer eines von uns vorne bei meiner Mutter. Ohne Sicherheitsgurt, man stelle sich vor. Der Platz bei meiner Mutter war begehrt. Denn da war es ruhig. Hinten gab es meistens ein Gerangel. Die Brüder, die älter als wir Schwestern waren, belegten dabei die besten Plätze an den Fenstern. Damit wir uns nicht stritten, wusste Mutter einen guten Trick. Der funktionierte meistens. Zuerst wurden alle Heiligen aufgerufen, die uns auf der Reise begleiten sollten. Danach fingen wir an zu singen. Ein Lied nach dem andern. Und ganz schön war es dann, wenn Mutter die zweite Stimme dazu sang.

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