Ich habe längst damit aufgehört, von meinen Reisen Ansichtskarten zu verschicken. Denn dauernd bin ich erreichbar. Ich kann jederzeit von unterwegs von meinem Handy aus kleine Nachrichten verschicken, nie sind sie länger als 160 Zeichen lang. Nora hat sich daran gewöhnt, zweimal im Tag einen kleinen Text von mir zu erhalten. Ich halte mich bewusst nicht an Tageszeiten: Mal kommt meine erste Textnachricht morgens an, ein anderes Mal am späteren Nachmittag oder sogar erst nachts. Nora scheint auf meine Textnachrichten zu warten, denn kaum ist meine SMS bei ihr eingetroffen, tippt sie mir eine Antwort ein. Selten nur reagiere ich sofort. Nora will immer wissen, wo ich bin, was ich mache, wen ich getroffen habe, wie es mir geht, was ich denke, wie meine Pläne sind, was ich vorhabe. Ich aber mag nicht immer alles erzählen, Details umgehe ich gerne. „Cafè Dantzig, wunderbarer Ort, sitze am breiten Lesetisch, Amsterdam. Heute Abend Konzert im Tropenmuseum. Weisst du noch?“. Mein Gruss zählt 140 Zeichen, es müssen nicht immer 160 sein. Ich schicke meine kleine Nachricht in die Schweiz, Nora wird genau sehen, wo ich bin, auch wenn ich kein Bild schicke, es genügt, wenn ich ihr in Worten schildere, wo ich bin: Sicht auf den Münzturm, die Wohnboote am Grachtenrand, das Grandcafé mit seinen dunklen Tischen, gleich nebenan der geschäftige Markt am Waterlooplein, hier sassen wir uns schon mehrmals gegenüber, manchmal an der breiten ‚Leestafel’, wo Zeitungen und Zeitschriften aufliegen. Am späten Abend nochmals ein Gruss von mir: „Keizersgracht, kalter Wind, zu Fuss unterwegs zurück ins Zentrum, die Cafés voller Menschen, ich mag diese Stadt so sehr“. Und Minuten später bereits Noras Antwort auf meinem Display. Sie weiss, dass ich die kleinen süssen Pfannkuchen mag und schreibt: „Denk an mich, wenn du Poffertjes isst, weißt du noch, wie wir gleich zwei doppelte Portionen bestellt haben?“. Ich quittiere Noras Nachricht nicht. Ich bin müde, die Hektik von Kairo macht mir zu schaffen. Morgen werde ich eine kleine Nachricht vom Vondelpark aus schicken und eine zweite vielleicht vom nahen Stedelijk Museum. Ich muss mich nur gut genug hineindenken.
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Ich kenne Nora. Nicht unbedingt diese Nora. Es gibt viele Noras. Ihr Handy meldet den Einganag einer SMS und schon sind sie am Drücker, reagieren sofort und sind hungrig nach einer Antwort, die dann nicht kommt. Sie wollen wissen, wo er ist, was er macht, mit wem er sich trifft. Er lässt sich durch eine Sie ersetzen. Es kann die Tochter sein oder der Sohn, den sie nicht loslassen können. Mein Rat, liebe Nora: Lass ihn seine SMS-Grüsse schreiben, reagiere nicht sogleich, nimm dir Zeit. Ich weiss es, er wird ungeduldig. Er wird sich fragen, weshalb sie nicht reagiert, wo er sie doch aus Amsterdam oder von anderswo geschrieben hat. Lass ihn etwas zappeln, halte dich zurück. Ich weiss es aus eigener Erfahrung: Er wird es nicht aushalten. Du wirst es sehen, er wird sich jetzt wieder melden. Die SMS-Freaks halten es nicht aus, wenn man nicht auf ihre Texte reagiert. Patrick weiss es aus eihener Erfahrung. Männer sind sich so ähnlich.
Ich habe einen Mann gekannt, der hiess Hans und er war anders als alle anderen. Noch einen kannte ich, der war auch anders als alle anderen. Dann einen, der war ganz anders als alle anderen und er hiess Hans. (Ingeborg Bachmann)
Sie sind immer anders.
Tricky, diese Geschichte, aber sie hat einen Zeitzünder. Sie funktioniert exakt so lange, als Nora noch nicht das Wissen hat, das derzeit noch Smartphone-Zentralen und anderen Geheimdiensten vorbehalten ist… Wenn jeder von uns die kleine Trackingsoftware mit sich führen kann, die den Anrufer ortet, dann sind diese herkömmlichen Listen und Evasionstechniken nicht mehr möglich. Aber wir werden uns andere ausdenken; werden wir nicht?