Immer die gleichen Aufnahmen. Im Frühling und im Frühsommer. Jedes Wochenende. Sie fahren die Neisse Strasse hinunter, vorne ein alter Skoda oder ein buckliger Volvo aus den 60er Jahren. Und hinten die Autos mit den Trauzeugen, mit den Eltern und mit den Freunden. Sie hupen im Takt, der erste Wagen mit Braut und Bräutigam und vielen scheppernden Konservendosen an einer Schnur, die an der hinteren Stossstange angemacht ist. Wieder ein frisch verheiratetes Paar, sie in Weiss, er im schwarzen Anzug, eben haben sie sich das Jawort gegeben, den Bund fürs Leben geschlossen. Vorher wurde die obligate erste Fotografie an der Rathaustreppe aufgenommen, jetzt hält die Autokolonne an der Brücke an. Frau Lorenz ist schon da, die blonde Fotografin von der Strassburg-Passage. Jetzt ist der Moment für die nächste Bilderserie gekommen: Sie und er am Brückengeländer, im Hintergrund das rote Jakob-Böhme-Haus. Sie und er auf der anderen Brückenseite mit Waidhaus und Peterskirche im Hintergrund. Dritte Variante: Er trägt sie, sie liegt in seinen Armen und er lehnt sich ans Brückengeländer, was gewagt aussieht. Sujet Nr. 4: Beide am Brückenkopf, sie sitzt, er steht. Und Motiv Nr. 5: Beide vor dem alten roten Skoda oder vor dem dunkelblauen Buckel-Volvo. Es sind immer wieder dieselben Fahrzeugtypen. Manchmal ist’s ein Mini, mit dem das Paar unterwegs ist. Alles Mietfahrzeuge, die fast immer nur an Hochzeiten ausgefahren werden. Heute gelang ihr ein wirklicher Schnappschuss. Das war als das Paar sich nach dem Shooting an der Brücke wieder zum Skoda begab und er nochmals kurz nach hinten schaute, um zu sehen, ob die Fotografin ihnen immer noch folge. Sie weiss es: Das ist das einzige Bild, mit dem sie diesmal zufrieden sein wird. Und es wird jenes Bild sein, das das Hochzeitspaar nicht für das offizielle Hochzeitsalbum nachbestellen wird. Ungestellte Bilder mögen die frisch Vermählten nicht. Sie weiss nicht, weshalb das so ist. Jetzt setzt sich die Autokolonne wieder in Bewegung, Frau Lorenz fährt mit, an diesem Wochenende heiratet sie gleich dreimal. 42 Hochzeiten dieses Jahr, die meisten im Frühling und Frühsommer. Immer die gleichen Posen, denkt sie. Immer die gleichen Gesichter. Sie kann sie nicht mehr unterscheiden. Aber sie macht gute Bilder. Und sie muss Geld verdienen. Weshalb heiraten sie alle, fragt sie sich manchmal, wo doch über die Hälfte der Ehen wieder geschieden werden. Wenigstens können sie am Montag im Hochzeitskleidergeschäft Bismarckstrasse Ecke Struve Strasse das weisse Hochzeitskleid wieder zurückgeben. Der schwarze Anzug kann ja beim nächsten Bewerbungsgespräch wieder seine Dienste leisten. Man sollte im Bedarfsfall den Partner oder die Partnerin ebenso zurückgeben können, dachte sie vor kurzem.
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