Keine Fragen

Ich war nachts angekommen. Die Fahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum löste keine Erinnerungen aus. Eine vierspurige Autobahn, Fabriken zu beiden Seiten der Schnellstrasse, grossflächige Reklametafeln warben auch hier für dieselben Ladenketten wie in Europa. Nur die Palmen und die andere Schrift lösten Assoziationen an früher aus. Ich war zu müde und es war auch zu spät, um nach der Ankunft im Hotel noch einen ausgedehnten Spaziergang zu machen. Das Hotel lag im Zentrum; den Norden der Stadt, den Stadtteil meiner Kindheit würde ich am nächsten Tag aufsuchen.

Ich hatte mir vorgenommen, die Strasse ohne Stadtplan zu finden. Ich müsste nur von der Endhaltestelle aus nach Osten gehen, den Hügel hinauf und dann wieder hinunter, um das Haus zu finden. Die Häuser sahen alt aus, obwohl sie nicht älter als sechzig Jahre sein konnten. Sie waren heruntergekommen. Die üppigen Vorgärten nicht gepflegt, ausgemergelte Katzen suchten in den Mülltonnen nach Nahrung, es war heiss und dabei noch nicht einmal zehn Uhr vormittags. Die Häuser müssen schon gestanden haben, als ich hier noch gelebt hatte. Dennoch gab es keine Wiederbegegnungen. Ich verirrte mich im Gewirr dieser sich so ähnelnden Strassen, bis ich mich durchzufragen begann. Dann die Strasse von früher. Wie klein sie jetzt war, und wie gross ich sie in Erinnerung hatte. Eine Sackgasse. Ich zählte bloss je sechs Häuser zu beiden Seiten der Strasse. Das Haus, in dem wir gewohnt hatten, glich einem bewohnten Abbruchobjekt. Der Garten war verwahrlost, der Balkon der Wohnung im Erdgeschoss mit seinen leeren Pflanzentöpfen wirkte ärmlich, die Balkone in den oberen Stockwerken waren irgendwann zugemauert worden, um die Wohnungen grösser werden zu lassen. Ein vierstöckiges Mehrfamilienhaus, das dringend renoviert werden sollte. Erst im Treppenhaus kam die Erinnerung auf. Ich hätte mit geschlossenen Augen die Treppe hinaufsteigen können. Da war unsere Wohnungstür, nur der Name an der Klingel war mir fremd. Während ich dastand, wurde die Tür der Nachbarswohnung geöffnet. Eine kleine alte Frau schaute mich fragend an. Ich erkannte sie nicht wieder, aber sie reagierte auf meinen Namen, es war die Nachbarin, die schon vor 35 Jahren hier gelebt hatte. Ihr Mann war gestorben, der ältere Sohn war bei einem Autounfall umgekommen, der jüngere lebt in den USA. Frau Hellmann hatte weisse Haare, eine geschrumpfte Frau, zu der ich als Kind hinaufgeblickt hatte. Ich weiss nicht, weshalb sie mich nicht in ihre Wohnung bat. Wir standen an die zwanzig Minuten im Treppenhaus, und ich staunte über ihr Gedächtnis. Sie kannte noch den Vornamen meiner Schwester. Zu meinem Erstaunen wusste sie noch, von wo meine Eltern seinerzeit zugezogen waren. Sie konnte sich sogar noch an Gewohnheiten meines Vaters erinnern. „Raucht Ihr Vater immer noch soviel? Damals waren es drei Päckchen am Tag“. Ich selber konnte mich nicht mehr daran erinnern. „Grüssen Sie Ihre Eltern“, sagte sie mir noch zum Abschied. Wo ich jetzt lebe, wie ich lebe, was ich mache? Nein, sie erkundigte sich nicht nach meinem Leben. Aber sie wusste noch, dass ich zum zehnten Geburtstag von meinem Grossvater ein rotes Fahrrad bekommen hatte.

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Eine Antwort zu Keine Fragen

  1. emamil sagt:

    Namen, Gerüche, das rote Fahrrad – Fundstücke, die von abgelegten Leben erzählen.
    Lücken bleiben. Da war doch noch dies…
    Einiges oder vieles versickert, unwiderruflich.
    Anderes lässt sich zwischen alten Alben, Zeitungen, Filmen finden.
    Das Jetzt wird später, in Erinnerungsnestern gefunden werden.
    Vielleicht. Das Leben, so flüchtig.

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