Die Korridore der Krankenhäuser gleichen sich immer. Lange Gänge, die Fussböden aus einem leicht abwaschbaren Material, grelle Neonbeleuchtung, an den Wänden Bilder lokaler Künstler, Farbdrucke oder grossformatige Fotografien von der Reise eines Chefarztes vor zehn Jahren durch Mali oder Haiti, irgendwo in der Mitte des langen Gangs das Stationszimmer mit seinem Ausguck und immer wieder an der Decke jene Digitalanzeige, die mit roten Zahlen darauf hinweist, in welchem der Patientenzimmer gerade Hilfe benötigt wird. Nach meiner Knieoperation mach’ ich’s meinem Vater gleich. Er sagte jeweils nach einer Operation: „Ich dreh noch eine Runde.“ Und dann spazierte er im Morgenrock mehrmals im Gang auf und ab, schaute an beiden Enden des Gangs zum Fenster hinaus und kommentierte das Geschehen in der Aussenwelt, um spätestens nach vier Durchläufen müde ins Bett zu sinken. Mein Vater grüsste die Menschen, denen er im Korridor begegnete höflich. Ich quatsche die anderen an. Ich halte die Monotonie des Krankenzimmers nicht aus. Manchmal spazieren wir zu zweit, ein anderer Patient vom Stockwerk und ich, mehrere Ganglängen lang zusammen, erzählen uns unsere Operationen, nennen Krankenhäuser, in denen wir schon gelegen haben: Insel Bern, Clara Basel, St. Anna Luzern, Stephanshorn St.Gallen, die Schweiz ist voller Krankenhäuser. Bei meinen Krankenhausspaziergängen habe ich erfahren, wie ein Tankstellenshop von Coop organisiert ist. Im gemeinsamen Spaziergang von Zimmer 102 bis 134 und zurück habe ich mir erzählen lassen, weshalb die Jagdsaison im Kanton Graubünden anders ist als im Kanton Bern. Auch wenn ich noch keinen Rollstuhl benötige, ich weiss jetzt, dass die besten und individuell am genauesten angepassten Elektro-Rollstühle aus Schwanden im Kanton Glarus stammen. Ich kombiniere zwei Bedürfnisse beim Wandern durch die Krankenhausgänge: Ich bewege mich und ich höre zu, ich stelle Fragen und erzähle nicht viel. Und wenn niemand ausser mir im Gang spaziert, dann versuche ich mir vorzustellen, wer hinter den geschlossenen Türen der einzelnen Zimmer liegen könnte. Im Zimmer 102 vielleicht ein Banker, im 103 könnten es eine pensionierte Lehrerin und eine Modistin sein, für 104 beschliesse ich, sind es ein Kranführer und ein Bademeister. Im 105 liegen mein Zimmernachbar, ein Seilereibesitzer und ich. Ich versuche, mir vorzustellen, weshalb sie alle hier sind. Osteoporose, Morbus Bechterew, Morbus Sudeck, Rotatorenmanschettenruptur, Karpaltunnelsyndrom, Lumbale Diskushernie, Pereiacetabuläre Beckenosteotomie. Mir fallen lauter klinische Begriffe ein, bei denen ich gar nicht so richtig weiss, was hinter dem Namen wirklich steckt. Aus eigener Erfahrung kenne ich nur den künstlichen Kniegelenkersatz. Und eigentlich genügt das.
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an dem tag, an dem du dein bild auf den blog geladen hast, hatte ich den ganzen tag kurs in einem spital. so dass mir die korridore so bekannt vorkamen. es hätte, rein vom bild her, fast möglich sein können, dass wir uns über den weg laufen. während du am laufen bist, ich am eilen in die spitalcafeteria für die kurze pause zwischen den unterrichtsblöcken. ada-joséphine