Juden leben keine mehr in der kleinen Stadt im Osten. 1938 wurde die kleine Synagoge im ersten Stockwerk eines Hauses an der Lutherstrasse geplündert, das Gebäude liess man stehen, in der Kantorenwohnung im Erdgeschoss richtete sich eine Familie ein, der Vater wohl ein NSDAP-Mitglied. Der Kantor hatte sich rechtzeitig mit seiner Frau nach England abgesetzt. 1942 wurden die letzten Juden an Ort „eingeladen“, keiner kam mehr zurück. „Eingeladen“ sagen manche noch heute und meinen, sie seien in Güterwaggons der Reichsbahn geladen worden. In den Jahren der DDR kümmerte sich keiner um die jüdische Vergangenheit der Stadt. Ein Geschichtslehrer am Gymnasium war’s, der sich daran machte, nach der Wende im Landesarchiv Adressbücher anzuschauen, Namen zu notieren, Dokumente von früher zu sichten, von Haus zu Haus zu gehen und ältere Bewohner nach Erinnerungen an frühere Nachbarn auszufragen. Als dann die letzten Mieter aus der ehemaligen Kantorenwohnung im baufälligen Haus der Synagoge auszogen, konnte er Gleichgesinnte davon überzeugen, hier eine kleine Ausstellung einzurichten. Die Wohnung und der im Obergeschoss liegende Betsaal wurden notdürftig renoviert. Anzeigen aus dem Lokalblatt der Jahre vor 1933 wurden kopiert, Fotografien von Hausfassaden mit Geschäftsaufschriften wurden vergrössert, jetzt waren Friedländers und Hamburgers, Levys und Königsbergers, Katzensteins, Mendelsohns und Schottländers wieder da. Man erinnerte sich auch wieder an Max Bloch, den Gründer der Landesbühnen. Dann kam Günter Demnig vorbei und setzte die ersten Stolpersteine ein. Ein Förderverein Synagoge wurde gegründet, Mitglieder zweier Kirchgemeinden, mehrere Lehrerinnen und Lehrer, eine Sozialarbeiterin gehörten zu den Gründern. Der Historiker, der eine Geschichte der Juden am Ort zu schreiben begann, wurde zum Vorsitzenden des Vereins gewählt. Irgendwann kamen auch Türken in der kleinen Stadt im Osten an und eröffneten zwei Kebabbuden, eine italienische Familie betreibt heute eine gut gehende Pizzeria an einem der Altstadtplätze und am Bahnhof sieht man manchmal Schwarze, Flüchtlinge aus Afrika, die hier gestrandet sind. Das Bundesland heisst Sachsen-Anhalt. Und es ist in den letzten Jahren zu Beschädigungen an den beiden Kebabläden gekommen. Ein einziger Mann lebt in der Stadt, dessen Vater Jude war. Er beharrt aber darauf, selber kein Jude zu sein. Grabsteine in den beiden früheren jüdischen Friedhöfen, in denen seit 1941 kein Jude mehr beerdigt wurde, wurden in den letzten Jahren mehrmals aus der Erde herausgerissen und zerstört, worauf am Eingang des neueren Friedhofs eine Tafel angebracht wurde, der man entnehmen könnte, es sei eine jüdische Gemeinde am Ort noch tätig. An der Fassade der ehemaligen Synagoge wurde in blutroter Farbe der Ausdruck „Juden raus“ angebracht. Die Täter kennt keiner. Der Geschichtslehrer, den Menschen, die ihn nicht mögen, nur noch „der Jude“ nennen, hat sich daran gewöhnt. Er hat sich vor geraumer Zeit einen Bart wachsen lassen. Und wenn er mit einer Gruppe von Jugendlichen den neueren der beiden jüdischen Friedhöfe betritt und eine Mütze aufsetzt, dann sieht er wirklich aus wie der Jude vom Ort.
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