Diese Sache mit den Geschichten. Der Ehrgeiz, jede Woche eine neue Geschichte zu schreiben. Dieser Zwang, der langsam unerträglich wurde. Woher sich die Ideen holen? Er hatte alle Methoden ausprobiert. Seine Tagebücher von früher. Die vermischten Meldungen in der Zeitung. Gehörtes vom Büro. Manchmal liess er sich von Freunden ein Stichwort geben, zu dem er einen Text schrieb. Irgendwann aber trat die Müdigkeit ein, die Ideenleere, die Winterstarre. Er kam sich vor, als sei er irgendwo weit im Norden, wo sie im Winter Löcher in die Eisdecke der Seen schlagen, um sich die nach Luft schnappenden Fische zu holen. Er sass auf dem zugefrorenen See, er schlug ein Loch ins Eis, aber die Geschichten, die er fangen wollte, kamen nicht an die Oberfläche. Seine Geschichtenquelle war versiegt, die Ideen stellten sich nicht mehr ein, es kam nichts mehr, er war ausgelaugt. Er sass auf seinem Klappstuhl auf dem Eis, hinter sich die Stadtsilhouette mit den Kirchtürmen, vor sich nichts als das Weiss der zugefrorenen Seebucht, und sah, wie die anderen ihre Geschichten an Land zogen. Die anderen hatten Eimer mitgebracht, die sie dann mit Geschichten gefüllt in die Stadt trugen. Manche Geschichten froren sie zuhause wieder ein, um sie bei Bedarf aufzutauen. Er blickte neidvoll in diese Eimer und sah manchmal, wie sich die Geschichten bewegten. Wenn er nur mehr Mut gehabt hätte, um mit der Hand nach einem dieser fremden Fische zu greifen. Er könnte einen dieser Fischer auf dem Heimweg überfallen, um dann dessen Beute zu verarbeiten. Er könnte sich unterwegs in der Kneipe am Gepäck eines anderen zu schaffen machen. Dann würde er zuhause den Fisch eines anderen ausweiden. Weshalb die Geschichten bloss nur an den Angelruten der anderen bissen, seine aber nie eine Bewegung zeigte? Er musste seine Geschichten zu Markte tragen, sonst würde seine Verkaufslizenz verfallen. Es gab auch andere Wege, um zu neuen Texten zu kommen: Er kannte eine Autorin, die es mit Bildern machte. Sie kaufte regelmässig auf Flohmärkten alte Fotografien und schrieb zu jedem Bild einen Text. Manchmal erfand sie ganze Familien neu, die auf dem Schreibtisch vor ihr lagen. Er hatte es auch einmal versucht, aber ihm graute vor diesen vergilbten und bräunlichen Bildern und vor den Unbekannten, die ihn still und mit strenger Miene anstarrten. Er kannte einen Autor, der wahre Begebenheiten aus der eigenen Familiengeschichte so umformen konnte, dass man meinen konnte, er sei ein besonders begabter Geschichtenfinder. Er selber hatte alle erdenklichen Techniken erprobt. Die Phase der Werkstätten für Drehbuchautoren lag bereits hinter ihm. Drehbücher waren seine Sache doch nicht. Mit einer Kollegin war er während eines ganzen Jahres in Briefwechsel gestanden. Sie schrieb eine Geschichte, die sie ihm zusandte, und er holte sich jeweils ein Detail aus deren Text, zu dem er eine neue Geschichte erfand, die er dann ihr schickte, damit sie wiederum in seinem Text ein Detail zur weiteren Bearbeitung finden möge. Als auch irgendwann diese Methode keine Fänge mehr brachte, brach er fast zusammen. Die Anschaffung eines neuen Computers führte ebenso wenig zu neuen Texten wie die intensive Lektüre von Handbüchern für Autoren in der Krise, die er in den Vereinigten Staaten entdeckt hatte. Die Geschichtenstarre mochte nicht mehr von ihm weichen. Auf der Suche nach neuen Quellen machte er sich auf ausgedehnte Reisen durchs Internet. Er konnte jetzt bei Versandhäusern Kleider auswählen und bestellen, er konnte Telefonbücher fremder Städte auf seinem Bildschirm durchblättern oder dank Google am Schreibtisch durch fremde Städte wandern. Aber auch diese virtuellen Wanderungen ergaben keine Texte. Seit kurzem publiziert er wieder regelmässig erzählerische Texte, manchmal sogar zwei in der Woche. Er hat die Erzähllizenz am Markt nicht verloren. Irgendwann hatte er nämlich eine ausländische Geschichtenbank ausfindig gemacht, die ihm einmal die Woche gegen Gebühr eine fixfertige Geschichte liefert. Zwar treffen die Geschichten jeweils in einer englischen Version ein, weil die Storybank im Ausland liegt. Aber dank eines Übersetzungsprogramms benötigt er heute nicht mehr als etwa eine knappe Stunde für das Anpassen der Geschichte an sein eigenes Leben. Und dass manche seiner Geschichten seit geraumer Zeit in weit weg gelegenen Landschaften spielen, etwa in Ungarn oder im Osten Europas, macht ihn nur interessanter.
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Eine Bekannte erzählte mir, dass eine gute Freundin ihrer Freundin folgendes erlebte. Sie war auch eine die schrieb, jene gute Freundin der Freundin meiner Bekannten. Und ihr erging es wie jenem Autor, von dem oben die Rede ist. Diese Freundin jedoch wollte ihre Geschichten nicht irgendwo kaufen, denn selbstverständlich kannte auch sie die einschlägigen Adressen der Geschichtenbanken. Finanziell hätte sie auch keine Probleme damit gehabt. Doch sie wollte etwas Lebendiges, nicht quasi schon Tiefgefrorenes aus dem Netz. Die Freundin der Freundin meiner Bekannten suchte deshalb auf einem Online Portal nach einem Menschen, der bereit war sich mit ihr zu treffen, um gemeinsam Geschichten zu machen. Umgehend wurde sie fündig. Fortan traf sich die Freundin der Freundin meiner Bekannten regelmässig mit diesem andern Menschen, um Geschichten zu finden. „Natürlich blieb es nicht beim Geschichten finden“, erzählte mir dann meine Bekannte. „Über kurz oder lang hatten die beiden eine Geschichte laufen.“ Meine Bekannte wiegte den Kopf. „Irgendwann jedoch fing diese Geschichte an aus dem Ruder zu laufen. Wie so oft.“ Meine Bekannte seufzte. „Die Sätze wollten nicht mehr zusammen passen, ein Wort gab das nächste Wort. Jedoch immer öfter das Falsche. Und anstatt Gedankenstriche häuften sich die Ausrufezeichen.“ Meine Bekannte schwieg, bekümmert wie mir schien. Und so fragte ich „und dann?“. „Eines Tages war es besonders schlimm. Und der Freundin meiner Freundin platzte der Kragen und sie schrie: „Jetzt mach keine Geschichten!“ Die Bekannte schüttelte den Kopf. „Dabei hatte sie doch immer jemanden gesucht, der Geschichten macht.“
Je lis en ce moment un livre de Sylvain Tesson, Dans les forêts de Sibérie.
L’écrivain a passé 6 mois dans une cabane d’inspecteur isolée en Sibérie, de
février à juillet 2010. Et il fait ce que tu imagines, un trou dans le lac
Baïkal pour pêcher du poisson, longtemps sans succès d’ailleurs.
Il y a dans ce livre de merveilleuses descriptions de l’hiver glacial et
impitoyable lorsque les températures descendent jusqu’à -40 degrés.
Einmal sah einer das gefrorene Meer. Ja, dachte er, mit einer Axt könnte man das Eis allenfalls aufschlagen. Aber so? So ganz ohne diese Wut?
Sie schickten sich Geschichten hin und her. Ein Stichwort, ein Gedanke darin löste eine weitere Geschichte aus. Keine Antwort jeweils, sondern eine Erweiterung, ein Weiterdriften. Und es dauerte immer länger bis ihre Texte eintrafen, eine Woche, zwei Wochen, schliesslich blieben sie ganz aus. Von ihr kamen keine Geschichten mehr, und er konnte es sich nicht erklären, suchte nach einem Grund. Ob er doch das eine oder andere Mal einen deutlicheren Bezug zu ihren Erzählungen hätte herstellen sollen, ob ihr etwas an seinen Texten missfallen hat. Er wurde unsicher, schickte nur noch Kurztexte an ihr Mobiltelefon, sie beantwortete sie geflissentlich, ohne Charme. Er schickte ihr noch einzelne Wörter, die er irgendwo aufgeschnappt hatte und die ihm gefielen, betrübt zwar, nicht mehr selbst diese Wörter sich ausgedacht zu haben. Alles lief auf einen Abbruch hinaus. Das war es, was ihn wirklich verzweifeln liess. Er war verloren, er brauchte ein Gegenüber. Was nütze es ihm, die Fische anzustarren, er starrte sie an bis der Winter kam und den ganzen See, auch das Meer mit einer dicken Eisschicht überzog. Eines Tages nahm er eine Hacke und schlug mit aller Kraft zuerst einen Riss, dann ein Loch in das Eis. Doch da waren auch sie weg, die Fische.