„Wie geht es Dir?“

Vergangene Nacht habe ich gleich zweimal von André geträumt. André war mein Trauzeuge. Aber das liegt mehr als vierzig Jahre zurück. André ist Psychoanalytiker. Seit bald zwei Jahren Seelenarzt mit reduziertem Pensum. Nach über dreissig Jahren hinter der Couch mag er nicht mehr an fünf Tagen die Woche die immer gleichen Ängste, Sorgen, Obsessionen und Träume seiner Patienten hören. Wir sind uns im Traum in der Zentralbibliothek begegnet. André arbeitet derzeit intensiv an einem Thema im Lesesaal der Bibliothek. André sagte mir nicht, an welchem Thema er arbeitet. Er sah mich an und sagte mir, ich sollte mich vermehrt in meinen Unterhaltungen mit Freunden und Bekannten danach erkundigen, wie es ihnen ginge. Jedenfalls meinte er, würde ich die Frage „Wie geht es dir?“ anderen zu selten stellen. Ich weiss nicht, wie André auf diese Idee kommen konnte. Denn André und ich sehen uns wirklich selten.

In derselben Nacht habe ich nochmals von André geträumt. Ich bin ihm auf der Strasse begegnet und erzählte ihm meinen Traum, worauf André mir den Rat gab, ich sollte mich bei meinem Schreiben in Zukunft weniger mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen, mich nicht so wichtig nehmen und doch lieber nach vorne blicken. Seltsam. André ist sonst ein brillanter Traumdeuter. Ich verstand nicht, weshalb André sich nicht mit meinem Traum auseinandersetzen mochte.

Der Zufall wollte es, dass ich zwei Tage später André auf der Strasse begegnete. „Ganz vergessen zu fragen: wie geht es dir?“, sagte ich als André sich verabschieden wollte, weil er einen Termin beim Augenarzt hatte. „Ach, das ist eine müssige Frage“, gab er zur Antwort. „Alle stellen diese Frage und hören dann doch nicht wirklich zu. Lass diese Frage doch besser sein“.

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3 Antworten zu „Wie geht es Dir?“

  1. anonym sagt:

    oje, jetzt wirst du nicht mehr fragen: „wie geht es dir?“
    und ich kann nicht mehr antworten: „doch, doch.“
    dein freund, der andré, weiss gar nicht, wie viele informationen und geschichten in der kleinen frage stecken. und auch nicht, was mit einem „doch, doch“ erzählt werden kann…

  2. Heinz Egger sagt:

    Hm, in welcher Etage befindet sich das Institut? In der dritten. Beim Lesen der letzten Zeile auf dem Foto machten meine Augenbrauen etwa die Form des è und é. 3è für 3ième? Noch nie gesehen. Aber da steht es doch, eingeprägt für teures Geld in eine Metallplatte! Ob wir uns auf das Metall verlassen können? Vielleicht träume ich ja nur oder ich brauche die Hilfe des genannten Instituts.

  3. Tiaretta sagt:

    Je suis allée sur votre blogg une fois encore et j’ai relu la remarque de Heinz Egger. Il a raison: les chiffres ordinaux s’abrègent soit 3e soit 3me. Seuls les «chiffres» n et x s’écrivent: nième et xième. Dixit le Grevisse, la bible des grammairiens! tiaretta

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