Danzigers vom Nachbarhaus hatten ein Auto. Während der Woche stand ihr Auto vor dem Haus. Papa Danziger fuhr nicht gerne mit dem Auto durch die Stadt. Da war er lieber mit der Strassenbahn und mit dem Fahrrad unterwegs. Danzigers Peugeot 404 war ein Wochenendauto. Manchmal durfte ich an einem Samstag oder Sonntag mitfahren. Danzigers fuhren im Sommer mit ihrem Peugeot stets an die Nordsee. Am liebsten nach Egmond aan Zee, wo man zuerst in den Dünen spazieren ging, um dann im immer selben Strandcafé zu sitzen. Es gab immer dasselbe im Strandcafé. Entweder den sogenannten Uitsmijter, Spiegeleier mit Speck, oder Poffertjes, die süssen kleinen Pfannkuchen. Anschliessend spazierte man zum grossen Parkplatz, um zurück nach Amsterdam zu fahren. Das war im Sommer fast an jedem Wochenende so. Zwar äusserte sich Papa Danziger gerne abschätzig über die anderen Strandgäste, die man immer wieder im Dünencafé antreffen konnte . Aber Danzigers waren nicht anders. Danzigers hatten ein Autoradio, was in den 60er Jahren nicht jeder Autobesitzer besass. Die lange Radioantenne musste jeweils von Hand ganz ausgezogen werden, damit man die Sendungen von Radio Hilversum möglichst knisterfrei hören konnte. Es war die Zeit von West Side Story. Wir Jungens sangen laut „I want to be in America“ mit und machten uns über den Akzent von „Officer Krupke“ lustig. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Papa Danziger sich mächtig ärgerte, als die Autoantenne zum zweiten Mal von Fremden abgebrochen wurde und neben dem Auto lag. War Papa Danziger guter Laune, kam es nach dem Besuch des Strandcafés zu langen Ausfahrten bis nach Den Helder, wo wir stets die Fregatten der Königlich Niederländischen Marine erklärt bekamen. Papa Danziger liebte diese grauen Schiffe. Und er klärte uns gerne auf über die Bordkanonen und über die Feuerkraft jedes einzelnen Schiffes, das Holland vor den bösen Russen verteidigen würde. Papa Danziger war ein gemächlicher Autofahrer. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals zu einem wirklichen Überholmanöver ausgeholt hätte. Papa Danziger war ein echter Sonntagsfahrer, sein immer wieder ausgesprochener Lieblingssatz lautete „Der Weg ist das Ziel, ich habe Zeit“. Emil Danziger, der ein Jahr älter als ich war, schämte sich über die langsame Fahrweise seines Vaters. Wenn da schon wieder ein kleiner DAF Variomatic oder ein schwachbrüstiger DKW mit Zweitaktmotor den Peugeot 404 überholte, dann machte Emil sich auf der Hinterbank klein, damit die Insassen des DAF ihn nicht sehen konnten. Mir war das alles egal. Hauptsache, wir konnten über Land fahren. Hauptsache, ich musste nicht schon wieder mit Vater und Mutter nach Utrecht oder Haarlem oder zu den Seen von Loosdrecht im Gegenwind radeln. Vater und Mutter sind ein einziges Mal in Danzigers Auto mitgefahren. Weil aber Papa Danziger am Steuerrad stets wortkarg blieb und Mama Danziger ihren Mann beim Fahren nicht stören wollte, kam es nicht zu einer weiteren gemeinsamen Ausfahrt der beiden Nachbarsfamilien. Die Fahrten mit Papa Danziger nahmen ein jähes Ende, als Papa Danziger irgendwann eine Hirnblutung erlitt und im Pflegeheim einquartiert werden musste. Mama Danziger bot meinen Eltern den Peugeot 404 zum Kauf an. Wie gerne hätte ich es gesehen, wenn wir Besitzer des Autos geworden wären. Meine Eltern hatten aber keinen Führerschein. Und sie hätten sich das Auto wohl auch gar nicht leisten können. Danzigers Auto war eines Tages, als ich von der Schule heimkam, nicht mehr da. Wenn ich heute in Frankreich einen alten Peugeot 404 sehe, denke ich immer an Papa Danziger. Und immer wieder fallen mir der Song „I want to be in America“ und „Officer Krupke“ein. Dabei wohnten wir an der Valeriusstraat in Amsterdam. Amerika war damals bloss ein Traumziel, eine Phantasie. Nicht mehr.
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