Sammler

Von elektronischen Lesegeräten halte er nichts. Das Haptische fehle ihm bei der Lektüre, sagt er und macht mit Daumen und Zeigefinger seiner Rechten eine Geste, als würde er einen kostbaren Seidenstoff in die Hand nehmen. Er ist ein Sammler. Ein unruhiger Büchersammler seit Jahren. Sein Gästezimmer kann keinen Gast mehr aufnehmen, Bücher überall, Bücher türmen sich auf dem Gästebett, Bücher liegen auf dem Tisch, auf dem Sessel, die Bücher stapeln sich auf dem Boden, die Büchergestelle sind schon längst voll, hinter der ersten Reihe verbirgt sich noch eine zweite. Sogar das Fenster im Gästezimmer lässt sich nicht mehr öffnen, weil hier zwei Bücherberge in die Höhe gewachsen sind. Es kommt vor, dass er manchmal ein Buch sucht, das er vor Monaten gekauft hat, es sucht und lange nicht findet, worauf er nachts nicht zu Ruhe kommt, sich angesichts der langen Suche erst gegen vier Uhr morgens ins Bett legt. Seine Wohnung ist eher ein Büchermagazin als Wohnstatt.

Jede Woche trifft er sich mit drei Freunden in der Innenstadt, stets am selben Wochentag. Sie machen sich auf die Jagd in den Buchantiquariaten. Jeder hat sein eigenes Jagdrevier. Und gut ist, dass sich die Jagdgründe nicht überschneiden. Seine Leidenschaft gilt Bildbänden, in denen Werke der Gotik und Renaissance zu sehen sind. Reiseführer bilden seinen zweiten Sammelschwerpunkt. Die roten Baedeker und der Guide bleu, die alle vor 1950 herausgekommen sein müssen, spätere Ausgaben interessieren ihn nicht. Er hat schon Reisen mit alten Führern gemacht, „Nachreisen“ nennt er diese Aktivität, er hat auf seinen „Nachreisen“ schon in Gasthäusern übernachtet, in denen laut Baedeker schon Goethe eine Nacht verbracht haben soll. Und er erzählt stolz von Napoleonzimmern in Gasthäusern zwischen Breslau und Biarritz. Gerne vergleicht er auf diesen Reisen die Preise und Spezialitäten von anno dazumal mit den heutigen. Und er kann Hotels aufzählen, in denen immer noch die gleichen Speisen zu haben sind wie früher, dieselben Familien als Besitzer anzutreffen sind. Seine drei Jägerkollegen wissen um seine Schwerpunkte, er weiss ebenso gut, wofür sie sich interessieren. Jeden Montag legt der erste Buchantiquar, den sie aufsuchen, die Neueingänge der vergangenen Woche auf zwei Tischen bereit, er weiss, dass die vier Herren am nächsten Tag in der Mittagspause kurz nach 12 Uhr eintreffen werden. Und er weiss genau, wofür sie sich interessieren. Was sie nicht wissen: Besonders kostbare Bücher aus ihren Sammelgebieten hält er zurück, er mag dieses Feilschen nicht. Sie meinen, sie seien so treue und langjährige Kunden, dass er ihnen mit den Preisen entgegenkommen müsste. Sie wissen nicht, dass es andere Jäger gibt, die weitaus vermögender sind und noch mehr auszulegen bereit sind als sie. Der eine der vier Sammler sucht seit Jahren nichts anderes als Bücher zur Sowjetunion, der andere hat sich eine grosse Sammlung zum Thema Holocaust angeschafft, der Redakteur der Wochenzeitung hat sein Augenmerk auf Biografien von Schauspielern und Regisseuren gelegt. Zu Konflikten kann es kommen, wenn ein Buch von einem Regisseur handelt, der im Weltkrieg in die Schweiz emigriert ist. Aber auch Bücher über sowjetische Gulags können zu Streitigkeiten führen, weil sich der Sammler mit dem Sammelschwerpunkt Holocaust auch für Bücher über Konzentrationslager interessiert, die nicht unbedingt vom Dritten Reich angelegt wurden. Die vier Herren bleiben rund zwanzig Minuten im ersten Antiquariat, ihre Blicke sind geübt, mit Sperberblick stellen sie sofort fest, ob sie länger im Antiquariat bleiben sollen oder nicht. Sie kennen sich aus, sind im Schätzen der Preise mittlerweile zielgenau. Dann verlassen sie zu viert das Antiquariat, überqueren die Strasse, biegen in die nächste Gasse ein, dort ist ihr zweites Ziel, auch dort bleiben sie kaum länger als eine Viertelstunde. Jedes Mal finden sie Bücher, immer gehen sie mit ‚Trouvaillen’, so nennen sie ihre Neuerwerbungen, weiter. Und immer gehört ein anschliessendes Mittagessen dazu, stets im selben Lokal, immer am selben reservierten Tisch, wo sie zu deftigen Fleischgerichten und Wein über nichts anderes als über Bücher sprechen, über Erstausgaben, über signierte Bücher, über die Such- und Suchtgebiete, die sie seit mehreren Jahren zum gemeinsamen Ausschwärmen veranlassen. Sie können sich noch Monate später daran erinnern, was sie gekauft haben. Sie treffen sich ausschliesslich an Dienstagen und nur bei bei den beiden Buchantiquaren und in der Gaststätte. Denn sie haben alle vier dasselbe Problem: Ihre Wohnungen sind mittlerweile vollgestopft mit ihren papierenen Jagdtrophäen. Ihre Wohnungen sind mehr Bücherlager als Wohnstätten. Sie sind mit ihren Büchern liiert, sie leben mit den Büchern, die sie grösstenteils nicht gelesen haben, weil so viele Bücher wie sie kaufen kaum jemand lesen kann. Und weil der eine Büchersammler, der dezidiert sagt, dass er von elektronischen Lesegeräten nichts halte, in einer Altbauwohnung lebt, in der sich der Parkettboden im Wohnzimmer unter der Last der Bücher schon um einige Zentimeter gesenkt hat, wird er eine neue Wohnung suchen müssen. Der Hausbesitzer nämlich hat Eigenbedarf gemeldet, als ihm der Eintritt in die Bücherwelt im zweiten Stockwerk trotz mehrmaliger Aufforderung verwehrt wurde. Unentwegt geht der Büchersammler dennoch weiter auf Jagd, denn noch fehlen ihm diverse Jahrgänge von Baedekers Reiseführer für Norwegen und Griechenland, Wales und Schottland.

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