„Nein, Sie müssen das Buch anders halten.“ Er sagt’s und nimmt der Frau, die ihm gegenüber sitzt, sein Buch vorsichtig aus der Hand, um ihr zu zeigen, dass Hebräisch von rechts nach links gelesen wird, sie das Buch gewissermassen von hinten nach vorne blättern müsste. „Sie müssen nur die Seitenzahlen suchen und schon wissen Sie, wo vorne und wo hinten ist.“ Wie er dieses Spiel liebt. Er sitzt in der Bahn und hält sein hebräisches Buch so, dass alle drei Sitznachbarn und die vier auf der anderen Seite des Gangs deutlich sehen, dass er ein exotisches Buch liest. Es dauert nicht lange, bis ihn jemand anspricht, sich danach erkundigt, in welcher Sprache denn das Buch geschrieben sei. Dann reicht er das Buch weiter und muss zeigen, wie das Buch richtig zu lesen sei. Er zelebriert es gerne. Seine Familie weiss es: Jede Woche trifft er am Donnerstag früh abends nach der Arbeit eine Frau, mit der er israelische Romane liest und über das Gelesene diskutiert. „Ich treffe eine israelische Literaturwissenschaftlerin“, sagt er. Und er sagt es gerne. Seit vier Jahren treffen sich die beiden in einem Café in der Nähe des Hauptbahnhofs. Anderthalb Stunden lang sitzen sie zusammen. Seine Frau und seine Kinder wissen, dass er am Donnerstag später nach Hause kommen wird. Zuhause erzählt er dann gerne, was er wieder gelesen hat, lässt sie Anteil nehmen an seiner Lektüre. Er legt den fremdsprachigen Roman, den er liest, den sie aber nicht lesen können, so auf dem Wohnzimmertisch hin, dass alle sehen können: Ich habe wieder weiter gelesen. Und wirklich, dem Buch ist anzusehen, dass hier jemand weiter gekommen ist. Was sie nicht wissen: Zwar kann er Hebräisch lesen, aber nicht so gut und flüssig, wie sie alle glauben. Und was sie auch nicht wissen: Er liest nur jene hebräischen Romane, von denen bereits eine Übersetzung vorliegt. Die deutschsprachigen Ausgaben der Romane aber, die er in jenen anderthalb Stunden pro Woche mit seiner Literaturwissenschaftlerin liest, versteckt er sorgfältig. So liest er eigentlich in den deutschen Ausgaben weiter und macht absichtlich Knicke in den Buchrücken der hebräischen Bücher, legt die jungfräulichen Bücher absichtlich auf den Bauch und drückt kraftvoll auf den Buchrücken, damit das Buch gelesen wirkt. So sehen seine hebräischen Romane zerlesen aus, ohne, dass er sie wirklich gelesen hat. Gestern hat er wieder seine Lesepartnerin im Café getroffen. Der neue Roman von Yoram Kaniuk sei einfach köstlich. Sie beide seien sich im Café gegenüber gesessen, jeder in sein eigenes Buchexemplar vertieft. Und zwischendurch hätten sie beim Sprechen über den Roman, dessen Titel 1948 laute, herzhaft gelacht. Dass der alte Mann so lustig schreiben könne, hätte er nicht vermutet, sagt er. Dass es in seinem Leben keine Lesepartnerin gibt, sondern bloss gute Übersetzungen, hat er nicht erzählt.
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