„Was soll ich mit all den Büchern?“. Vater war vor drei Monaten gestorben, seine grosse Bibliothek erinnerte Mutter jeden Tag an ihn. Es waren seine Bücher: Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, unendlich viele Bücher von Autoren aus der Weimarer Zeit, Bildbände über gotische und barocke Kirchen und Biografien. Lauter Biografien von Komponisten und Architekten. Von Bach bis Zelenka, von Andrea Palladio bis Peter Zumthor, die meisten ungelesen. „Was soll ich mit all den Büchern, ich les’ die nie, sie schauen mich so still an“, klagte Mutter. Die Stadtbibliothek wollte die Bücher nicht nehmen, weil ihr das Personal für die Erfassung der über 5000 Bände fehlte. Ein Antiquar, der herbeigerufen wurde, wollte nur etwa zehn Erstausgaben mitnehmen, lächerliche Fr. 700.- bot er an. Ein Umzugsunternehmen war bereit, die gesamte Bibliothek zu entsorgen. Als klar wurde, dass die Bücher in der Müllverbrennungsanlage landen würden, sprach Mutter ein klares Nein aus. Ich weiss nicht mehr, wer die Idee hatte: Der Rundbrief jedenfalls bescherte Mutter während mehreren Wochen zahlreiche Besuche. Jeder, der kam, durfte sich Bücher zum Mitnehmen aussuchen. Die Besucher bekamen einen Kaffee oder Tee angeboten. Sie alle durften herumstöbern, jeder durfte so viele Bücher mitnehmen, wie er wollte. Mutter hatte im nahen Einkaufszentrum genügend Einkaufstaschen besorgt. Zwei Bedingungen gab es. Oder waren es drei? Vorbeikommen und mit Mutter einen Kaffee oder Tee trinken. In einem grossen Leerbuch, das auf Vaters Schreibtisch lag, musste man eintragen, weshalb man gerade diese oder jene Bücher ausgewählt hatte. Und eine Erinnerung an Vater oder an den Besuch in Vaters Bibliothek musste man anfügen. Zudem bekam jedes Buch einen Kleber, auf dem zu lesen war, dass das Buch aus Vaters Bibliothek stammte. Jene Bücher, die keiner mitnehmen mochte, brachten wir eines Nachts in einem Leiterwagen weg und deponierten sie vor der Eingangstür eines Buchantiquariats. Kleber wiesen diese Bücher nicht auf. Die Bücher sollten den Rückweg nicht finden. Als ich zwei oder drei Monate später das Antiquariat betrat, traf ich vertraute Freunde aus Vaters Bibliothek in den Büchergestellen wieder. Ich habe Stefan Zweigs Schachnovelle aus Vaters Bibliothek beim Antiquar für Fr. 4.- gekauft.
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Ich habe in meiner Bibliothek mehr als 300 Bücher, die alle aus dem Besitz eines Daniel Leu stammen, den ich weder kenne noch je gesehen habe. Aber er ist ein grosser Leser. Und hat wohl wenig Platz für Bücher. Dieser Daniel hat eine sehr schöne Handschrift. Und er schreibt stets mit Füllfeder, benutzt schwarze Tinte, auch für seine Randbemerkungen auf den Buchseiten, für die ich ihn liebe. Und nach dem letzten Satz vermerkt er jeweils Ort (vermutlich Leseort) und Datum im Buch. Auf der ersten Seite steht neben seinem Namen das Kaufdatum des Werks. Ich habe auf diese Weise drei Jahre seines Lebens recht gut dokumentiert. Dann bricht unsere Geschichte leider ab. Daniel liefert nicht mehr. Der Antiquar kannte mich. Sie suchen nach Leu, sagte er jeweils, wenn ich sein Geschäft betrat. Leut und wie noch? hat einmal ein bekannter Schiftsteller gefragt, der sich zur selben Zeit auch im Antiquariat aufhielt und seine eigenen Werke zurück kaufte. Daniel Leu, habe ich geantwortet. Ja, der schreibt unglaublich interessante Texte, und so eigenwillig, seine Sprache, hat der Schriftsteller anerkennend erwidert. In seiner Stimme schwang Neid mit.