Jetzt könnte sie in einem Restaurant in Deutschland oder in der Schweiz auf Deutsch eine Mahlzeit bestellen. Und sie wäre auch in der Lage, ein Hotelzimmer am Telefon zu bestellen. Zweimal in der Woche lernt sie Deutsch. Einzelunterricht. Immer am Montag und am Donnerstag, an beiden Tagen morgens von 9 bis 10 Uhr. Ihr Lehrer ist ein Deutscher, ehemaliger Gymnasiallehrer, der die Schule nicht mehr ausgehalten hat. Er zieht es vor, mit Erwachsenen zu arbeiten. Und er mag es, Privatlektionen zu erteilen. Er hat ihr das Sprachlehrbuch „Deutsch. Schritt für Schritt“ im Hueber Verlag empfohlen. Von Mal zu Mal gibt er ihr Hausaufgaben. Jetzt sind die unregelmässigen Verben an der Reihe. Sie hat Mühe, sich in den Artikeln zurechtzufinden: der, die, das. Weshalb haben sie Deutschen drei Geschlechter, in ihrer Sprache sind Substantive entweder männlich oder weiblich. Sie schaut ihn genau an und er sieht ihr in die Augen, er spricht die einzelnen Wörter langsam aus, sie wiederholt sie, er korrigiert, sie setzt nochmals an. „Haben Sie ein Einzelzimmer für eine Nacht?“. Sie stolpert mehrmals über das deutsche Z, das sie weich ausspricht, als sei es ein englisches Wort. „Einselsimmer“, sagt sie. „Eintzeltzimmer“ spricht er mehrmals vor und sie hört diesen Zischlaut. Sie folgt seinen Lippen: „Eintzeltzimmer“. „It’s a Z like in Tzatziki“, sagt er. Sie will Deutsch sprechen können. Sie will deutsche Künstler in ihrer Galerie ausstellen. Und sie will deutsche Touristen, die ihre Galerie aufsuchen, in deren Muttersprache ansprechen können. Die ersten zehn Minuten einer jeden Lektion dienen der Konversation. „Hi Deborah, how are you today?“. „Hi Sebastian, I’m fine!“. „Say it in German“, fordert er sie auf. Und sie wagt es: „Guten Morgen Sebastian, wie geht es dir? Mir geht es gut!“. „That’s fine, gut so, you’ll learn it, du kannst es!“. Er spürt, dass sie motiviert ist. Und er will ihr Mut machen. Zwischendurch spricht er Deutsch und sie versteht nicht jeden Satz. „Bitte sprich lauter, Deborah, please raise your voice“, fordert er sie auf und legt seine Hand hinter das rechte Ohr, um ihr deutlich zu machen, dass er sie nicht gut hört. Sie schaut ihn an, sieht die hohe Bücherwand hinter ihm, er muss wirklich ein leidenschaftlicher Leser sein. Er sitzt am Tisch, das Unterrichtsbuch liegt offen vor ihm. Jetzt hebt er seinen Blick und spricht nochmals langsam und deutlich vor und sie repetiert: „Einzelzimmer“. Er schaut sie an und sein Blick schweift an ihr vorbei zum Sofa hinter ihr und in den Garten. „It’s snowing in Germany now. And it seems to be summer in Tel Aviv“, sagt er. Sie lernt Deutsch am Computer und sie spricht ihm die Sätze nach und schaut in den Bildschirm. 3000 Kilometer Luftlinie trennen die beiden. Sie lernt Deutsch, hat Einzelunterricht am Computer per Skype, sie lebt in Tel Aviv und lernt zweimal die Woche Deutsch.
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einfach ein ganz schöner text. so gut, heisst es aus brig!
Ob ich mein Russisch über Skype wieder aufnehmen soll? Die Idee gefällt mir.