Unikate

Am schwierigsten waren die Innenaufnahmen gewesen. Alle Zimmer des geräumigen Landsitzes hatte er fotografiert, die Eingangshalle, den Wintergarten, die Treppe in das erste Stockwerk hinauf, sogar den Dachboden, den er mit einem Scheinwerfer hatte ausleuchten müssen. Zwei Wochen nach Beginn der Bilderserie war er sicher, dass er das alte Haus von allen Seiten, zu allen Tageszeiten auch aufgenommen hatte. Das grosse Esszimmer mit den schweren Eichenmöbeln lag postkartengross in mehreren Varianten vor ihm, die alte Küche mit dem gusseisernen Kochherd war gut aufgenommen, das Wohnzimmer mit den Landschaftsbildern, die er selber gemalt hatte, die Schlafzimmer und die Gästezimmer im ersten Stock, sogar die beiden nie genutzten und nie wirklich eingerichteten Kinderzimmer, die ihnen als Abstellräume gedient hatten, waren dokumentiert. Etwas mehr als zwanzig Jahre hatten sie in diesem Haus gewohnt. Sie hatten es renoviert, sie hatten es eingerichtet, seine Frau hatte die Farbe der Tapeten in jedem der Zimmer selber ausgesucht und die Maler bei der Arbeit beaufsichtigt. Seit sie vor zwei Monaten ausgezogen war, wirkte das Haus unbewohnt, nicht unordentlich zwar, aber museal, weil er es jeden Tag verliess, um sich in ein nahe gelegenes Restaurant zu begeben, wo sie ihn gut kannten, ihn aber nicht nach seiner Frau fragten. Er hatte das Anwesen vom nahen Hügel aus aufgenommen, er war auf die andere Seite des Teiches, den er selber vor bald zehn Jahren zu ihrem vierzigsten Geburtstag angelegt hatte, gegangen, um das Gebäude von dort aus zu fotografieren. Er war auch mit diesen Aussenaufnahmen zufrieden: Die Enten, die Blesshühner und die beiden Schwäne waren darauf zu sehen. Nur die Goldfische im Teich hatte er nicht aufgenommen, aber diese Fische hatte er eh nie gemocht. Vierzig Innenaufnahmen und zwanzig Aussenaufnahmen hatte er vergrössern lassen, alle im Ansichtskartenformat. Wie gut sie alle in die kleine Metallbox passten, auf die der Name des Hauses eingraviert war. Er liess alle Türen des Hauses offen stehen, ein Durchzug würde jetzt gut tun. Er holte nochmals tief Luft, wie sehr er diesen Geruch mochte, der in allen Zimmern des Hauses lag. Mit der Kamera und mit der kleinen Metallbox verliess er das Haus, begab sich zum Teich, wo er dem kleinen Weg entlang zur anderen Seite des Wassers ging, um sich dort auf einem Baumstrunk hinzusetzen. Hesketh Hall lag friedlich auf der anderen Seite, die Doppeltür zum Wohnzimmer war weit geöffnet, die beiden Hunde waren in der Küche, er hörte sie bellen, sie würden jetzt nicht kommen können, weil er sie bei ihren Fressnäpfen angekettet hatte. Im ersten Stockwerk sah er die Vorhänge leicht in der Abendbrise flattern, der Durchzug tat dem Haus nach diesem heissen Tag gut. Jetzt war es soweit, seine Kamera war bereit, jetzt fing es an, jetzt konnte er die Bilder machen, die letzten Bilder, die zur Serie gehörten. Es begann unten auf der Seite des Esszimmers, dort, wo die Tür zum Rosengarten hinausführte, den seine Frau seinerzeit angelegt hatte. Er sah, wie sich die Farbe des dunkel wirkenden Raums langsam veränderte und hellgelb wurde, jetzt begann sich das Feuer seinen Weg zu suchen. Die Feuerbahn, die er mit benzingetränkten Lappen angelegt hatte, würde jetzt von einem Zimmer zum anderen ihren Weg finden, zuerst im Erdgeschoß und dann schnell die Treppe hinauf in den ersten Stock, so schnell, dass sogar ein vorbeifahrender Passant zu spät die Feuerwehr in der nahen Stadt alarmieren könnte. Er sah das Feuer, wie es jetzt heller und bedrohlicher wurde und wuchs und machte wieder eine Aufnahme. Jetzt waren die Flammen im Wohnzimmer angelangt, jetzt waren sie mannshoch, jetzt drückte er wieder ab. Schon längst hörte er die beiden Hunde bellen, heftig und endlos jaulten sie, er hatte kein Mitleid mit den beiden, es waren ihre Hunde gewesen, die sie zurückgelassen hatte, er hatte nichts mit ihnen zu tun. Er wollte sie vergessen, ihr Schicksal interessierte ihn nicht, sie würden genauso untergehen wie das ganze Haus, das er seinerzeit nur ihretwegen gekauft hatte, das Haus, in dem er sein Leben mit ihr verbracht hatte, bis zu jenem Tag, als sie in die grosse Stadt weggezogen war. Wie schnell sich das Feuer ausbreitete, unglaublich. Die offenen Fenster und Türen halfen gut nach, jetzt zischten und loderten die Flammen schon zu allen Fenstern im Erdgeschoss hinaus. Wie laut Feuer sein konnte, dachte er, und machte die erste Aufnahme, auf der zu sehen war, wie das Feuer im ersten Stockwerk angelangt war. Er hatte kein Mitleid mit dem Haus. Und er hatte das Haus in seiner Hand in vierzig Aufnahmen zusammengefasst. Alle Räume, in denen er in den vergangenen Jahren mit ihr gelebt hatte, waren da, sie würden für ihn nie mehr untergehen. Sie aber würde nichts mehr vorfinden, sie würde vergebens zurückkehren, um ihre Möbel und ihre Bilder, ihre Stoffe und ihre Kleider abzuholen. Es würde kein letztes Mal mehr geben, an dem sie durch die Zimmer gehen könnte. Er wollte in diesem Haus nicht mehr leben, jedenfalls nicht mehr alleine. Und er wollte nicht, dass andere das Haus beleben würden. Ein Verkauf, so wie sie es ihm in einem Brief vorgeschlagen hatte, kam nicht in Frage.

Kaum zehn Minuten, nachdem das Feuer im Esszimmer ausgebrochen war, war es im Dachstuhl angelangt. Das Haus schien zu singen und zu schreien, das Jaulen der Hunde war schon längst nicht mehr zu hören, sie waren genauso wie die Katze, die er in einem Korb eingesperrt hatte, bei lebendigem Leib verbrannt. Was hätte er auch mit den drei Tieren tun sollen, die ihr gehört hatten, die er nicht mehr mitnehmen wollte. Er drückte alle paar Minuten ab, die Bilder, die er in den zwei Wochen zuvor gemacht hatte, würde niemand mehr jemals machen können, sie waren Unikate, sie waren Erinnerungen an zwei Jahrzehnte eines Lebens. Jetzt spürte er die Hitze des Feuers, wie sie über den Teich herüberkam. Die Enten und Schwäne waren unter lautem Flügelschlag und Gequake davongeflogen, jetzt war das Haus selber nicht mehr zu sehen, nur noch ein riesiges Feuer und Rauchschwaden, die es einhüllten und die sich mit dem Wind leicht nach Osten neigten. Hinter dem Rauch hörte er ein Krachen, jetzt waren wahrscheinlich die ersten Dachbalken zusammengebrochen. Er sah niemanden auf der kleinen Strasse nebenan vorbeifahren, nichts deutete daraufhin, dass das Feuer im nahen Dorf bereits bemerkt worden wäre. Jetzt konnte er sich davon machen. Die Bilder waren da. Er würde sie vielleicht eines Tages wieder einmal anschauen.

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3 Antworten zu Unikate

  1. a.a. sagt:

    wer so abschied nimmt, muss sich nicht wundern, dass er verlassen wurde…

  2. airelav sagt:

    klasse text. ekliger typ.

  3. Eduard Graber sagt:

    Dass da ein Mensch so kaltblütig, so rachesüchtig sein kann! Ja, es gibt diese Typen, von ihnen lesen wir immer wieder in der Zeitung. Man verschone uns vor diesen Männern! E. Graber

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