Wie gut, dass man in der Stadtbibliothek die Bücher nicht mehr wie früher einzeln am Schalter bei der Bibliothekarin bestellen oder mit ausgefülltem Ausleihschein zeigen muss. Man holt sie selber im Büchergestell, begibt sich zu einer der elektronischen Erfassungsstationen am Eingang der Bibliothek, schiebt seine Benützerkarte ein, loggt sich mit dem eigenen Passwort ein und legt die Bücher nacheinander einzeln auf eine Kontaktfläche. Auf dem Bildschirm erscheinen die ausgeliehenen Titel sowie die Ausleihfristen, auf Knopfdruck wird die Quittung mit den Titeln und dem Rückgabedatum ausgedruckt. So einfach ist das Bücherholen heute. Wie peinlich war es früher, als die Bibliothekarin genau wusste, welche Vorlieben man hat. Albert Haari kennt den Vorgang bestens. Alle drei bis vier Wochen schaut er in der Stadtbibliothek vorbei, um sich Lesestoff zu holen. Und mindestens fünf Mal im Jahr bedient er sich im immer selben Bücherregal, zieht nebst weiteren Romanen und Sachbüchern, die er lesen will, stets eines der selben drei Bücher heraus, um sie mit nach Hause zu nehmen. Niemals würde er alle drei beim selben Bibliotheksbesuch gleichzeitig mitnehmen, er nimmt sie einzeln mit: Mal ist es der eine Titel, das nächste Mal ein anderer. Fünf Mal im Jahr holt er eines dieser Bücher, drei Mal legt seine Frau eines dieser drei Bücher in den Bibliothekskorb. Albert Haari ist ein treuer Bibliotheksbesucher. Und er weiss, dass Romane und Erzählbände, die während zwei Jahren nicht ein einziges Mal ausgeliehen wurden, ausgesondert werden: Jedes Jahr nach den grossen Sommerferien stehen draussen vor der Bibliothek jene Wühlkisten, in denen die ausgesonderten, die nicht mehr verlangten Romane zum Mitnehmen bereitstehen. Albert Haari ist Autor. Albert Haari ist kein Bestsellerautor. Und er weiss genau, dass seine drei Bücher nicht häufig verlangt werden. Er sieht es, wenn er den elektronischen Katalog der Bibliothek anschaut: Niemals steht da, jemand habe eines seiner Bücher zum Ausleihen vorgemerkt. Immer wenn Albert Haari die Bibliothek aufsucht, stehen seine Bücher da. Und er hat ganz genau das Schicksal der Bücher nebenan verfolgt: Katharina Hagenas Roman „Der Geschmack von Apfelkernen“ ist seit kurzem nicht mehr da. Und auch „Das Treffen für zwei“ von Iris Hanika ist nach den letzten Sommerferien ausgeschieden worden. Noch stehen „Auftauchen“ von Jennifer Haigh und Rawi Hages „Als ob es kein Morgen gäbe“ neben Albert Haaris Titeln im Gestell. Wie gut, dass das elektronische Bibliotheksprogramm nicht anzeigt, wer hier welche Bücher bestellt hat. Seit Jahren werden Albert Haaris Bücher regelmässig gelesen. Albert Haaris Bücher sind nicht gefährdet.
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Das erinnert mich an meine Zeit als Bibliothekarin. Da ging es den Büchern, den ungelesenen, auch schon so. Und eines Tages, ich weiss nicht mehr, ob nicht sogar aus einem Spass heraus, entstand die Idee, man könnte eine IG für ungelesene Bücher gründen. Um ihr Weiterbleiben in der Bibliothek zu sichern. Obwohl dies Unsinn war. Denn der Platz in der Bibliothek war immer knapp. So dass das Aussortieren durchaus Sinn machte. Trotzdem, aus der übermütigen Idee wurde eine ernste Sache. Klaus brachte in der folgenden Kaffeepause ein Entwurf, in dem die wichtigsten Leitsätze der IG festgehalten waren. Ungelesene Bücher unbekannter Autoren sollten während mindestens 5 Jahren zumindest in unserer Bibliothek eine Daseinsberechtigung erhalten. Dieser Stock durfte 10 Exemplare nicht überschreiten. Und pro Autorin oder Autor durfte nur ein Werk vertreten sein. Ferner durfte das Buch wirklich nie ausgeliehen worden sein. Exemplare, die nur schon einen Stempel aufwiesen – damals wurden die Bücher noch von Hand ausgestempelt – schieden aus dem Rennen. Und auch aus dem Regal.
Wie Jäger streiften wir in den Sommerferien durch die Büchergestelle. Um fündig zu werden und mögliche Kandidaten zu nominieren. „Ich hör das Lied der Nachtigall“, ein Heimatroman von Ingolf Heart, schaffte es locker durch die fünf Jahre. Ebenso Rosalind Schwaechters Erstlingswerk „Die Haut auf der lauwarmen Milch an einem ganz gewöhnlichen Sonntagnachmittag.“ Ich erinnere mich auch noch an das Taschenbuch „Ich weiss, du glaubst zu wissen, wer ich bin“ von Vera Kaprinski. Und ich hätte nie gedacht, dass „Stop“ von Uwe Sabe wirklich fünf Jahre schafft. Sein Buch war oft nah dran, ausgeliehen zu werden. „Sorry, Sie haben schon fünf Bücher ausgeliehen. Da müssen Sie eines zurück lassen.“ So blieb „Stop“ immer bei der Ausleihtheke hängen.
Nach fünf Jahren mussten diese Bücher alle gehen. Endgültig. Und gänzlich ungelesen. Denn wir selber lasen auch nie eines dieser auserkorenen Bücher. Irgendwann viel später lösten wir die IG in einer stillen Feier bei einem Glas Amigne auf. Das war sicher auch Klaus Idee. Damit wir was zu feiern hatten. Am Freitag Abend in der Bibliothek.
Wenn ich Klaus jetzt zufällig über den Weg laufe und für ein Glas Wein Zeit habe, dann seufzt er grinsend und fragt: „Weißt du noch, die Haut auf der Milch…“
Wunderbar, wie Haari seine Bücher davor bewahrt, als ‚Betrachtungswaisen‘ aussortiert zu werden. Ja, Betrachtungswaisen. Und IG für Betrachtungswaisen.
Betrachtungswaise * Etwas, das nie angeschaut wird. Von niemandem. Überhaupt nicht. Juli Gudehus, Das Lesikon der Visuellen Kommunikation
Ich meine, wir haben uns schon mal ausgetauscht. Du kommst aus München oder? Deine Texte gefallen mir!