Wir hatten uns Triest vorgenommen. Eine Woche Triest. Als wir müde nach einer siebenstündigen Bahnfahrt in Mestre aus dem Zug Zürich-Venezia Santa Lucia ausstiegen, wurden wir unsicher. Am anderen Ende des Bahndamms glitzerte Venedig, die Stadt zwinkerte und flüsterte uns zu, versuchte uns zu verführen. Wir hätten im Zug sitzen bleiben können, wir hätten einen Zug überspringen können, wir hätten in der Bahnhofsbar einen Capuccino trinken können, um uns dann nach Venedig zu begeben. „Wer A sagt, muss B sagen“ zitierte ich meinen Vater. „Venedig interessiert uns heute nicht“, sagte Richard entschlossen. Wir setzten uns in den schäbigen Regionalzug nach Triest, der sich nach und nach füllte, wir konnten es kaum fassen, andere Menschen wollten auch nach Triest fahren, wir waren überzeugt davon, dass wir die einzigen Passagiere sein würden, die Venedig links liegen lassen würden, obschon die Serenisssima rechts von uns lag. Plötzlich erkannte ich ihn: Claudio Magris, der Autor des grossen Donaubuchs, der Romancier, Essayist und Germanistikprofessor an der Universität Triest, ja der berühmte Magris, stand auf dem Bahnsteig, rauchte noch eine Zigarette fertig, warf die Zigarettenkippe auf das Geleise und bestieg unseren Zug. Jetzt erschien er in unserem Waggon, sagte das obligate „Permesso?“ und setzte sich, ohne wirklich auf eine Antwort zu warten, neben Richard hin. Magris zog ein voluminöses Buch aus seiner Tasche hervor, nicht so dick wie sein berühmtes Donaubuch zwar, und begann zu lesen. Ich konnte unmöglich Richard laut sagen, dass es sich bei dem Mann, der neben ihm sass, um den berühmten Autor handelte. Und ohnehin wusste ich nicht, ob Richard wusste, wer Magris ist. Auf einem Zettel schrieb ich „Das ist Claudio Magris“ und schob den Zettel über den kleinen Fenstertisch Richard zu, der mir zurück schrieb: „Ja, ich weiss“. „Was liest er?“, schrieb ich Richard. „Ich kann es nicht wirklich sehen“, schrieb mir Richard zurück. „Ist es ein deutsches Buch?“, stand jetzt auf dem Zettel. „Nein, es sieht eher Russisch aus“. „Was heisst eher“? Mir war klar, dass wir das Gespräch mit dem berühmten Professor noch vor Triest aufnehmen würden, anderthalb Stunden standen uns zur Verfügung. „Du oder ich?“, stand auf dem Zettel. „Was du oder ich?“. „Ansprechen!“. Richard schaute mich entsetzt an. „Du!“. Jetzt schob ich Richard den Zettel wieder zu: „Sei nicht so scheu, heute bist du dran!“. Meine beiden Ausrufezeichen waren wohl zu aggressiv, Richard schaute sich die Landschaft an, schloss die Augen, stellte sich schlafend. Ich gab Richard einen Fusstritt, mein Schuh knallte hörbar an seinen. „Aua“, rief er, „spinnst wohl?“. So kannte ich Richard nicht. Magris schaute jetzt auf, sah uns erstaunt an. „Du fragst“, sagte ich laut. „Ich bin draussen“, sagte Richard und schaute zum Zugfenster hinaus, obschon es eigentlich nichts Besonderes zu sehen gab. Wir hatten Mestre vor zehn Minuten verlassen, ich wusste genau, dass Claudio Magris in Triest wohnt und unterrichtet, seit jeher, das steht in jedem seiner Bücher. Uns standen noch 1 Stunde und 20 Minuten Zugfahrt zur Verfügung. Oder besser gesagt, uns standen noch 1 Stunde und 20 Minuten zur Verfügung, um dem Professore zu sagen, wir sehr ich sein Donaubuch schätzte, wie hilfreich sein Buch auf meiner Radtour von Donaueschingen bis Wien gewesen sei. Ich legte mir nun kleine Sätze zurecht, Richard war ja eh nicht auf dieser Radtour gewesen, er interessiert sich eher für Strandferien, ich würde mit Magris ins Gespräch kommen, würde versuchen mit ihm einen vertraulichen Ton herzustellen, eine Art Nähe zu finden, die einen gemeinsamen Stadtspaziergang durch sein Triest als Ziel hätte und mit einer Führung durch die grosse Synagoge enden könnte. Ich legte mir meine Sätze nochmals zurecht, als plötzlich il Professore sein Buch zuklappte, aufstand und grusslos das Abteil verliess, genau 15 Minuten nachdem wir Mestre verlassen hatten. Der Mann stieg aus, Richard schaute mich triumphierend an, Magris überquerte die Geleise des kleinen Bahnhofs, ich schaute ihm ungläubig nach, wie hatte es sein können, dass der berühmte Autor nicht nach Hause fuhr, sondern in einem Provinznest ausstieg? Ich schaute hinaus, suchte eine blaue Ortstafel mit dem Namen des Bahnhofs und sah, dass Claudio Magris in einem Dorf mit Namen „Uomini“ ausgestiegen war.
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„Reisen heisst – wie erzählen, wie leben – auch auslassen.“ Claudio Magris in „Die Welt. en gros et en détail.“
Sehr schöne Geschichte, die mit Magris. Ich hoffe, Du hast das so etwa erlebt… Solche Begegnungen sind ja immer möglich. Yasmina Reza ist einst dem von ihr bewunderten Cioran im nächtlichen Paris begegnet und hat sich nicht getraut… hat… den impact der Szene aber in ein Theaterstück verwandelt, in dem eine Leserin einem von ihr bewunderten Literaten Im Zugabteil gegenüber sitzt; „L’homme du hasard“ oder: „Der Mann des Zufalls“ (1995). Schreib weiter! (EF)