Alle acht Wochen meldet mir mein Computer, ich hätte nur noch elf Tage die Möglichkeit, mit dem gültigen Passwort meine Daten abzurufen, meine Mails zu lesen und im Internet zu surfen. Einen Tag später verbleiben mir nur noch zehn Tage. Kein Problem. Und wiederum einen Tag später handelt es sich immer noch mehr als um eine Woche. Es ist wie mit der Steuererklärung und wie mit den Rechnungen. Ich verschiebe Lästiges. Zwei Tage vor dem Ende aller Dinge nehme ich mir dann Zeit, um ein neues Passwort zu bestimmen. Die Namen meiner vier Kinder akzeptiert der Server nicht mehr: „Sie haben dieses Wort bereits benutzt. Wählen sie ein neues“. Auch die Namen aller acht Kolleginnen und Kollegen meiner Abteilung gehören zu den Altlasten. Meine Lieblingsstädte Lyon, New York, Amsterdam, Tel Aviv, Chicago und Turin sind Ausdrücke ohne Rückkehrmöglichkeit. Dabei ahnt der Server nicht, dass ich noch nie in Chicago war. Alle Winde sind ebenfalls verbraucht: Föhn, Mistral, Scirocco, Chamsin. Die schön klingenden orientalischen Ausdrücke Tsafon, Darom, Misrach und Ma’arav dürfen nicht mehr eingesetzt werden. In der Pflanzenkunde bin ich nicht stark genug, um Passwörter zu erfinden und anschliessend auch noch zu behalten. Dabei könnte ich doch mein Alpenpflanzenbuch zur Hand nehmen und mir hier alle acht Wochen ein neues Passwort auswählen. Auch die Astronomie hilft nicht weiter. Mich begleitet die ständige Angst, meine Codes und Passwörter zu verwechseln oder zu verlieren. Was wenn ich eines Tages aufwachte und den Pincode meiner Bankkarte vergessen haben sollte oder den Sicherheitscode meiner Mobilitykarte? Mir ist schon passiert, dass ich am Bankautomat stand und drei Mal den Pin meines Handys eintippte, worauf der Bancomat meine Bankkarte nicht mehr zurückgeben mochte. Was wenn ich den privaten Code beim Internetprovider vergessen würde? Oder den Code meiner Mastercard? Ich könnte eines Tages einen Schlaganfall erleiden und nicht mehr in der Lage sein, mein Geld bei der Bank abzuheben. Vor einem Jahr hatte ich alle meine Nordlandreisen nach und nach als Codewortlieferanten verbraucht: Island, Narvik, Shetland, Grönland, Lofoten, Nordkap, Hammerfest. Es ist eine Qual, sich jeweils einen neuen Begriff zu suchen und ihn zu behalten! Ich vergesse nicht mehr, wie ich eines Morgens vor meinem Bildschirm im Büro sass und das System mir unentwegt mitteilte: „Codeword unknown, no access“. Es dauerte mehrere Stunden bis der Serviceinformatiker mir weiterhelfen konnte. Ich hatte immer wieder Südpol und Nordpol als Passwörter eingegeben und vergessen, dass das richtige Wort Antarktis lautete. Immerhin, weit weg vom Passwort war ich nicht.
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Diese Fotografie wirkt gespenstisch. Eine Bank? Eine Kommandozentrale? Ein Museum? Sie passt zum Text, man meint ins Bodenlose zu stützen, wenn man dieses Bild sieht.