Margrit Mäder hat Zeit. Die pensionierte Mitarbeiterin der Raiffeisenkasse muss nicht mehr vor sechs Uhr früh aufstehen. Dass sie es dennoch tut, ist wohl der jahrelangen Gewohnheit zuzuschreiben. Kurz nach fünf ist sie schon wach. Deshalb weiss sie, dass die beiden Tageszeitungen, die ihre Nachbarn vom fünften Stock abonniert haben, kurz vor sechs Uhr früh von der Zeitungsausträgerin gebracht werden. Und sie weiss auch, dass immer dann, wenn die Zeitungsausträgerin in den Sommerferien weilt, die Zeitung erst eine halbe Stunde später kommt. Sie hat schon mehrfach gehört, wie ihre Nachbarn in der Ferienzeit ein zweites Mal mit dem Aufzug hinunter fahren. Und sie hat schon durchs Guckloch gesehen, dass ihre Nachbarn sogar beim zweiten Mal ohne Zeitung aus dem Aufzug ausgestiegen sind! Sie stellt sich vor, dass ihre Nachbarn die späte Auslieferung nicht schätzen. Sie jedenfalls würde es nicht. Ob sich die Nachbarn wohl je bei der Zeitungsauslieferung beschwert haben? Weil Margrit Mäder Zeit hat, weiss sie auch, dass ihre Nachbarn vom fünften Stockwerk den Briefkasten erst abends leeren. Nur Hellmüllers leeren ihren Briefkasten nie. Denn Hellmüllers Post muss anderswo ankommen. Ein halbes Jahr ist’s her, da lag in Hellmüllers Briefkasten ein Formular, das Hellmüllers lange nicht beachtet haben, weil sie den Briefkasten nicht leeren. Margrit Mäder war zufällig am Hauseingang als ein gelber Lieferwagen vor dem Haus anhielt und ein Mann mit einer sehr farbigen Jacke mehrmals bei Hellmüllers läutete. „Die sind nicht da, die arbeiten“, sagte sie dem Uniformierten, worauf der Mann, der ein Paket in der Hand hielt, sie fragte, ob sie vielleicht Hellmüllers das Paket am Abend abgeben könnte. Hellmüllers haben den Briefkasten nicht geöffnet. Hellmüllers gehen an den Briefkästen vorbei, ohne sie wirklich zu beachten. Hellmüllers konnten nicht wissen, dass ein Paket für sie angegebenen wurde. Margrit Mäder gab ihnen das Paket erst am übernächsten Abend. Ob Margrit Mäder sie testen wollte? ‚Tee Contor’ stand auf der Etikette. Ob Hellmüllers sich den Tee nach Hause schicken lassen? Margrit Mäder konnte sich das nicht vorstellen. Sie jedenfalls würde sich niemals Tee schicken lassen. DHL stand auf dem gelben Wagen, mit dem das Paket von ‚Tee Contor‘ geliefert wurde. Was DHL wohl bedeuten könnte? Sie wusste es nicht. Als sie im Stadtzentrum einen Lieferwagen mit den drei Buchstaben DHL stehen sah, wartete sie auf den Fahrer und fragte ihn, was die drei Buchstaben wohl zu bedeuten hätten. Das sei eine amerikanische Abkürzung, sagte der Mann. Aber er wusste nicht, was sich hinter den drei Buchstaben versteckt. Und als sie an einem anderen Tag wieder einen gelben Kastenwagen mit der gleichen Aufschrift sah, da meinte der Fahrer, der Buchstabe D stehe wohl für Deutschland. H für holen, L für liefern? Dann schaute der Mann sie nochmals an und sagte, D stehe wohl für das Wort ‚dringend’.
Michael Guggenheimers Website:
-
Neueste Beiträge
Neueste Kommentare
- inge reisinger bei Zimmer mit Aussicht
- anna überall bei Auf nach Paris
- Andrea Isler bei Stilleben
- Ro12 bei Bildermacher
- Albert Reifler bei Zimmer mit Aussicht
Archive
- November 2014
- Juli 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- April 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- September 2013
- August 2013
- Juli 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012
- Dezember 2011
- November 2011
- Oktober 2011
- September 2011
- August 2011
- Juli 2011
- Juni 2011
- Mai 2011
- April 2011
- März 2011
- Februar 2011
- Januar 2011
- Dezember 2010
Kategorien
Alles falsch: D = Du, H= Holen, L = seLbst. Tja, zweimal versucht der Bote, dir das Paket zuzustsellen, dann kannst du es seLbst holen, am vielleicht 30 Kilometer entfernten Dienstleistungszentrum, zu festgesetzten Öffnungszeiten. Da will ein Unternehmen schneller, billiger und besser sein – aber es geht von einem veralteten Lebensbild aus. Oder ist heute bei der Mehrheit der Empfängerinnen und Empfänger um 11 Uhr oder 15 Uhr jemand daheim?