In Hellmüllers Briefkasten liegt nie ein Brief. Auch kein Abholzettel, mit dem sie aufgefordert werden, einen eingeschriebenen Brief am Postschalter abzuholen. Gerne würde Frau Mäder wissen, wie es möglich ist, ohne Briefe auszukommen. Auch kommen keine Pakete für Hellmüllers an. Hellmüllers verlassen beide kurz nach sieben Uhr früh das Haus und fahren mit der Strassenbahn in die Stadt. Margrit Mäder weiss das. Von ihrem Esszimmerfenster aus sieht sie Hellmüllers regelmässig. Und sie weiss auch, dass Hellmüllers abends getrennt zu Hause ankommen. Frau Hellmüller zuerst, Herr Hellmüller immer später. Ihr ist aufgefallen, dass Hellmüllers am Montagabend erst nach neun Uhr zurückkommen. Sie stellt sich vor, dass die beiden einen Sprachkurs besuchen. Herr Hellmüller heisst Georg mit Vornamen, Frau Hellmüller heisst Helga. Die beiden Vornamen stehen im Telefonbuch, auf dem Briefkasten steht bloss G. und H. Hellmüller. Und da fällt ihr ein, dass nicht einmal das neue Telefonbuch jeweils im Paketkasten von Hellmüllers liegt. Hellmüllers Post könnte am Arbeitsort von Herrn oder Frau Hellmüller ankommen. Aber das wäre unpraktisch. Ob Hellmüllers Post in einem Postfach beim Postbüro ankommt? Frau Mäder getraut sich nicht, die Postfächerhalle in der nahen Post zu betreten. Was wenn Hellmüllers sie dort antreffen würden. Sie ist vor kurzem morgens mit derselben Strassenbahn wie Hellmüllers in die Stadt gefahren. Das war kein Zufall. Dass Helga Hellmüller an der Haltstelle neben der Post ausgestiegen ist, hat Frau Mäders Verdacht bestärkt. Sie ist hinter Frau Hellmüler ausgestiegen und ist ihr gefolgt, wobei sie sich nicht sehr wohlfühlte. Was wenn Frau Hellmüller zurückschauen würde? Und was, wenn Herr Hellmüller sie von der Strassenbahn aus gesehen hätte? Entgegen ihrer Vermutung ist Frau Hellmüller nicht in die Halle mit den Postfächern gegangen, sondern direkt in die Schalterhalle des Postbüros. Frau Mäder traute ihren Augen nicht. Helga Hellmüller hat sich in einem Gestell zwei Romane genommen, die sie am Schalter bezahlt hat. Frau Mäder hat genau hingeschaut: Ihre Nachbarin hat keine Briefe erhalten und keinen Abholzettel abgegeben. Gleich anschliessend ist sie wieder zur Strassenbahnhaltestelle gegangen, um mit der nächsten Tram der Linie 3 in die Stadt zu fahren. Seltsam. Und dann findet Margrit Mäder auch noch, dass die Post heute unnötigerweise Sachen zum Verkauf anbietet, die mit den Aufgaben der Post nichts zu tun hätten. Müllsäcke, Taschenlampen, sogar Schokoladen und Fotokameras. Frau Mäder ist in die Schalterhalle zurückgekehrt und hat sich die Buchangebote angeschaut. Für 5 Franken hat sie sich noch den Band „5 Romane in grosser Schrift“ gekauft.
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Eigentlich kaufte Frau Mäder den „5 Romane in grosser Schrift“ nur, weil sie schon mehrmals in der Vergangenheit gehört hat, dass in diesen Werken oft ein Körnchen Wahrheit steckt. Und so erhofft sie sich weitergehende Hinweise zum Treiben der Hellmüllers. Sollte sie nichts entsprechendes finden, wird sie wohl das „Buch“ in ein BücherBrocki bringen, um dort eventuell einen Tausch vornehmen zu können. Schon lange möchte sie das SILVA-Buch „Pflanzen der Heimat“, natürlich vollständig, mit allen Sammelbildern, wieder einmal ihr eigen nennen. Schliesslich kann sie sich noch gut erinnern, als der Paketpöstler damals das Buch ihren Eltern überbrachte und sie jeden Abend einen Blick in dieses werfen durfte. Damals. Alles war noch besser. Und der Pöstler durfte sogar mal einen Kaffee zusammen mit ihrer Mutter in der Stube ihrer Wohnung im 2. Stock trinken. Nur ihr Vater war nicht so richtig begeistert ob dieser Möglichkeit. Warum? Ein weiteres Rätsel aus der Familie Mäder. Sie dachte wohl, Vater wollte einfach, dass der Pöstler weiter arbeite. Schliesslich war die PTT ein Staatsbetrieb und gehörte somit auch ein ganz kleines Stück ihm. Oder so …
Frau Mäder ist am Suchen. Sammelt Informationen, macht Beobachtungen, versucht sich ein Bild zu machen. Doch die Post hat sich gewandelt. Briefzustellungen können auf unterschiedliche Art und Weise an die Adressaten gelangen. Es ist auch möglich, sämtliche Korrespondenz übers Internet abzuwickeln. Pakete über verschiedene Zustellungsfirmen bringen zu lassen. Die Post hat sich gewandelt. Und Frau Mäder verwirrt. Sie ist kein schlechter Mensch. Aber vielleicht ein Opfer der Post-Moderne?