Hinter dem Deich

Irgendetwas hatte sich verändert. Ich stand da, schaute mir die Blumen an, es sollte ein Blumenstrauss für einen Geburtstag werden. Noch wusste ich nicht, welche Farbe, welche Blumen es sein würden, als mir die leere Wand hinter der Kasse auffiel. Der Zeitungsartikel hinter Glas, in dem in grossen Lettern eine Hauptzeile besagte, dass gerade dieser Blumenladen als einer der besten der Stadt auserkoren worden sei, war verschwunden. Und auch die Diplome und Auszeichnungen waren nicht mehr da. Erst jetzt nahm ich wahr, dass sich auch das Angebot des Blumenladens verändert hatte. Oder bildete ich mir das bloss ein? Ja, Frau Neef hätte das Geschäft vor einem Monat aufgegeben. Nach dreissig Jahren. Und nein, sie wüssten nicht, was Frau Neef jetzt mache. Aber eine Mailadresse könne ich haben. Ich entschied mich für einen weissen Blumenstrauss, Weiss mit viel Grün. Meinte ich nur, die Blumensträusse hier seien früher schöner gewesen? Ja, ich muss es mir eingebildet haben, denn die Floristin, die meinen Blumenstrauss zusammenstellte, war schon früher hier angestellt und vom neuen Ladenbesitzer übernommen worden. Ich habe von zu Hause aus und noch am selben Tag Frau Neef geschrieben. Sie sei wohl kaum im Pensionsalter und ob sie sich für einen neuen Laden an einem neuen Ort entschieden habe. Und dass ich es sehr wohl bemerkt hätte, dass sie nicht mehre da sei. Immerhin sei ich seit sieben oder acht Jahren ihr Kunde, ihr Kunde gewesen. Am darauffolgenden Tag kam die Mailantwort: 29 Jahre seien gut gewesen. Und genug. Jetzt setze sie einen Traum um: Im Sommer in der Schweiz, im Winter in Florida, so sehe das Leben von jetzt an aus. Frau Menardi fiel mir ein, die Personalchefin, deren Traum es war, einen Blumenladen zu eröffnen. Den Traum hat sie nie umgesetzt. Und meine Nachbarn fielen mir ein, die für ein Jahr ihre Berufe an den Nagel gehängt haben. Sie verbringen ein ganzes Jahr in Kairo, lernen Arabisch, lernen ein neues Land und eine fremde Kultur kennen. Und der Zeitungsredakteur fiel mir ein, der für vier Monate nach Buenos Aires ist. Ich habe keine Ahnung, was er dort macht oder gemacht hat. Buenos Aires ist eine 3-Millionen-Einwohnerstadt. Ob man in vier Monaten eine so grosse Stadt wirklich kennenlernen kann? Schon vor drei oder vier Jahren habe ich gedacht und gesagt, ich könnte mich für drei oder vier Monate in Tel Aviv an der Uni der zeitgenössischen israelischen Literatur widmen: Lesen, Vorlesungen besuchen, Autoren kennenlernen. Ich habe die Idee immer noch nicht umgesetzt. Als ich vor kurzem in Nord-Holland und in der niederländischen Provinz Friesland mit dem Rad unterwegs war, staunte ich über die vielen Tafeln mit der Aufschrift „Te koop“, zu verkaufen. Ich habe mir in Schaufenstern von Häusermaklern die Preise für Häuser in Holland angeschaut. Und ich habe putzige Häuser mit blauen Fensterläden und einem Giebeldach gesehen, in denen ich gerne hinter dem Deich und mit Sicht auf das weite flache Land wohnen würde. Ich könnte dorthin ziehen, aufs Land oder in eine kleine Stadt, keine 3-Millionen-Stadt, eher ein Ort mit 8000 oder 12000 Einwohnern. Natürlich nicht zu weit weg von der nächsten grossen Stadt und ihren Kinos und Buchhandlungen entfernt. Aber ich kenne mich: Wenn mir jemand in zwei oder drei Jahren erzählen wird, er habe vor, nach Dänemark oder England in eine kleine Stadt mit Fachwerkhäusern auszuwandern, dann werde ich mich an Hoorn oder Enkhuizen, an Medemblik oder Sneek erinnern, die mir so gefallen haben.

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