Ich war im Schwimmbad. Den Satz musste Marion abends eigentlich gar nicht sagen. Ihr Badkleid hing zum Trocknen an der Wäscheleine auf dem Balkon. Marion ging im Sommer regelmässig ins Freibad. Immer bei schönem Wetter in der Mittagspause. Und häufig abends nochmals. Wie viele Längen bist du heute geschwommen, fragte ich sie manchmal. Mal waren es zehn, ein anderes Mal zwölf oder vierzehn, mehr nicht. Sportlich ist sie, dachte ich immer. Mehrmals jede Woche im Sommer im Bad. Im Winter mochte sie nicht schwimmen. Hallenbäder würden zu sehr nach Chemikalien riechen. Ich schwimme nicht. Ich kann nicht schwimmen. In meiner Kindheit gab es keinen See in der Nähe. Das Meer lag zu weit weg. Und auch ein Schwimmbad gab es damals noch nicht. Marion ist an einem See aufgewachsen. Früher seien sie bei schönem Wetter im Sommer immer am See gewesen. Die ganze Familie. Und der Schwimmunterricht gehörte im Gegensatz zu mir bei ihr zu den Erinnerungen an die Schulzeit. Lange wusste ich nicht, wie viele Meter eine Länge ist. Hundert Meter dachte ich. Nein, es sind bloss fünfzig, korrigierte sie mich. Ich habe Marion nie ins Freibad begleitet. Weshalb denn auch, wo ich nicht schwimmen kann. Kam ich abends nach der Arbeit nach Hause und sie war noch im Schwimmbad, bereitete ich das Abendessen vor oder hörte die Nachrichten. Heute weiss ich, dass Marion niemals wirklich schwimmen war. Ich weiss, dass sie ihr Badkleid jeweils kurz vor Verlassen des Bads unter der Brause hielt, um mit einem feuchten Badeanzug nach Hause zu kommen. Marion hatte keinen Freund, den sie im Bad traf. Wenigstens das nicht. Marion lag jeweils auf dem Rasen und las Bücher. Ein Arbeitskollege, ein regelmässiger Badbesucher, dem ich erzählt hatte, dass Marion im Sommer häufig schwimmen sei, war es, der mir erzählte, dass er Marion nie im Wasser begegnet sei. Marion, ich habe es eines Tages selber gesehen, lag einfach auf ihrem hellblauen Badetuch. Sie lag auf dem Bauch und las. Ich konnte es kaum fassen. Marion hatte mich belogen. Es hatte niemals Längen gegeben. Es bedurfte ihrer ganzen Überredungskunst, bis ich endlich verstand, dass Marion nichts anderes wollte, als für sich zu sein, Zeit für ein Buch zu haben, einfach liegen und lesen können. Nach einer Pause von zwei Wochen ging Marion wieder ins Freibad. Heute hängt kein feuchtes Badkleid mehr zum Trocknen auf unserem Balkon.
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Der Text aus dem Schwimmbad gefällt mir ausserordentlich. Weil er auf eine besondere Art überraschend ist. Da ist eine die nicht ohne weiteres alleine lesen darf. Deshalb verkriecht sie sich ins Schwimmbad, auf ein Badetuch und liest in der Sonne ein Buch. Ich kann sie mir regelrecht vorstellen, wie sie ganz konzentriert liest. Sich von den Stimmen rundherum und auch dem Wind oder der Sonne nicht aus der Ruhe bringen lässt. Das hat etwas ganz friedliches, ein Bild, das mir gefällt. Ueberraschend ist dann, wie der Erzähler reagiert. Er fühlt sich belogen. Weil marion nicht erzählte, dass sie las, sondern schwamm. Da tauchen bei mir zwei Fragen auf. Was bringt Marion dazu zu sagen, ich war schwimmen. Was daran ist einfacher zu erzählen, als dass sie lesen will? Der Erzähler muss einer sein, der genau wissen will, was seine Partnerin macht. Und witzig, dass er bei sportlichen Aktivitäten seiner Partnerin keine Bedenken hat. Erinnert mich daran, dass früher das Lesen als gefährlich angesehen wurde. Und ja, das Lesen kann einen ja in ganz andere Welten führen, wo der oder die andere nicht mitkommen kann. Ob der Erzähler wohl auch nicht liest? Nicht nur nicht schwimmt, sondern auch nicht gerne Bücher liest. Und sich Marion deshalb einen ungestörten Ort suchen muss. Es ist ein text, den ich sehr mag. Und der dazu anregt zu überlegen, warum erzählen wir manchmal ungeniert was wir tun, und warum muss anderes verborgen bleiben.
Die Arme, die nicht lesen darf. Nur in der Badi, wo Kinder schreien!