Ich wollte es genau wissen: Gibt es den Talmud nun wirklich in Korea. Ich verliess das Hotel, um mich mit dem Bus nach Downtown Gyeongju zu begeben. Downtown Gyeongju ist ein in der Form eines Schachbretts angelegter Stadtteil mit niederen Häusern, keines höher als drei Stockwerke, ein Viertel mit schmalen Strassen, die zumeist keinen Bürgersteig aufweisen. Am meisten faszinierten mich die vielen kleinen Garküchen, in denen ältere Koreanerinnen vor den Augen der Kunden ihre Speisen kochen. Nach längerer Suche fand ich einen Buchladen. Ich kann mich an einen Besuch einer Buchhandlung in Lissabon erinnern: Ich schaue mir fasziniert die Buchcovers an, ich sehe, dass Bücher von Autoren, die ich schätze, auch in Portugiesisch erhältlich sind. Ich kann die Namen der Autoren lesen, manche Titel sind sogar auf Anhieb verständlich. Ein Buch kaufen? Nein, ich kann kein Portugiesisch. Jetzt gehe ich in der Buchhandlung von Gyeongju von einem Büchertisch zum nächsten von einem Regal zum nächsten und erkenne bloss, wo sich die Kinderbücher befinden, wo Schulbücher zu finden sind. Ein wirklich reiches Angebot, aber ich kann nicht einmal die Buchtitel entziffern, weil ich die Schrift, die wunderschön ist, nicht lesen kann. Ich frage einen jungen Mann hinter der Kasse, ob er Englisch spricht. „A little!“. Ich suche den Talmud, sage ich. Der Mann schaut mich fragend an und streckt seine Hand in eine Richtung und sagt gleichzeitig etwas, das ich nicht verstehe. Ich folge in die Richtung, die er mir angezeigt hat, gehe auf Büchergestelle zu, in denen ich niemals den Talmud in Koreanisch finden werde, als eine Angestellte auf mich zukommt, der wohl der Satz in Koreanisch galt. Ich folge ihr in den ersten Stock der Buchhandlung, sage nochmals „Talmud“ und sie nickt verständnisvoll. Und siehe da: Da liegt das Buch, das angeblich vierzig Millionen Koreaner besitzen: Nicht bloss ein Exemplar, es sind wohl zwanzig Taschenbücher, ein kleiner Bücherturm. Ich erkenne sogar das Wort Tal Mud, das da in lateinischen Lettern gedruckt ist! Ja, das Wort setzt sich aus zwei Wörtern zusammen Tal und Mud. Unten auf dem Cover ist die Abbildung eines alten Manuskripts zu sehen, eine undefinierbare Schrift, gewiss weder Hebräisch oder Aramäisch. Ich kann auf der Rückseite einzig die ISBN Nummer lesen und erkenne beim Durchblättern, dass das Buch aus vielen kleinen Kapiteln besteht, die alle sehr schöne farbige Illustrationen aufweisen, zierliche Vignetten, die manchmal eine Blume, der Mond, ein Lampion, eine Kletterpflanze, das Gesicht einer Frau, eine Kerze darstellen. Das Buch ist wirklich schön gestaltet, in der Schweiz würde ich ein solches Buch gewiss gerne jemanden schenken, vorausgesetzt es ist ein gutes Buch. Der Tal Mud in meiner Hand erinnert in keiner Weise an jene grosse Talmudfolianten mit ihren vielen schwarzen Buchstaben, die ich kenne. Auch fehlen die langen Erläuterungen neben dem Originalrtext. 10 000 Won kostet das Buch, das steht auf der kleinen Etikette, die auf der Rückseite des Covers klebt. Das sind umgerechnet zehn Franken. Sind es kleine Geschichten? Geschichten für Kinder und Jugendliche? Gutenacht Geschichten? Vorlesegeschichten? Ich weiss es nicht, ich kann die Verkäuferin nicht fragen, denn weder spreche ich Koreanisch, noch spricht sie Englisch. Ich nehme das Buch, begebe mich zum Erdgeschoss, um das Buch zu bezahlen. Neben dem Mann, der mir vorher den Weg zum Talmud gezeigt hat, steht ein älterer Herr, der mir mit einer abwehrenden Geste zu verstehen gibt, dass ich mein Portemonnaie wieder weglegen soll. „Book is present“, sagt er und lächelt. „You buy book, you no Korean, I like, you have Book“. Ich bin überrascht, wir verbeugen uns mehrfach gegenseitig, ich bedanke mich auf Englisch, ich bin irgendwie sprachlos, das ist mir noch nie passiert, ich mache zwei Schritte rückwärts und stolpere fast über eine Kundin, bedanke mich nun wohl zum dritten Mal. Ich habe zum ersten Mal im Leben ein Buch erworben, das ich nicht lesen kann, nie werde entziffern können. Wie schade, dass ich mich bei dem freundlichen Mann nicht auf Koreanisch bedanken konnte.
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