Seitdem so viele Menschen ein Handy haben, verschwinden die Telefonzellen. Ich kann mich noch gut an jene Telefonzelle an der Strassenecke erinnern, wo man Menschen sah, die darauf warteten, dass der laut gestikulierende Italiener oder Spanier endlich sein Telefongespräch mit den Verwandten in der Heimat beenden würde, um selber telefonieren zu können. Manchmal klopfte dann jemand an die Glastür, um auf die Armbanduhr zu weisen, weil zehn oder fünfzehn lange Gesprächsminuten schon längst vorbei waren. Die Telefonzelle an der Strassenecke gibt es nicht mehr. Fred weigert sich dennoch, ein Handy anzuschaffen. Und nachdem er gelesen hat, wer die Daten eines Smartphones auch noch mitlesen kann, steht für ihn fest, dass die portablen Geräte nicht seine Sache sind. Fred hat zu Hause einen Telefonanschluss. Unpraktisch sei es heute bloss unterwegs. Das gibt er zu. Seitdem eine Telefonkabine nach der anderen verschwinde, sei es schwieriger geworden, sich von unterwegs zu melden. Als ich ihn kürzlich im Bus traf, war er gerade auf der Suche nach einer Telefonkabine. Ich bot Fred mein Handy an. Aber Fred wollte nicht. An der Strassenecke Langstrasse/ Neugasse sei schon immer eine Telefonzelle gewesen, dort werde er aussteigen, um zu telefonieren. Dann zeigte er mir sein zweites Portemonnaie, das er „Telefonnaie“ nennt. Fred hat immer genügend Kleingeld dabei, um von unterwegs telefonieren zu können. Als ich mit dem Bus weiterfuhr, sah ich Fred in der Telefonzelle. Fred kennt sich wirklich aus! So wie ich weiss, wo sich Zeitungskioske befinden könnten, so weiss Fred genau, wo die Telefonkabinen stehen. Fred nennt das „Telefonzellengeografie“ und er kann genau und einleuchtend erklären, wo sich solche Kabinen befinden müssen, an welchen Plätze, an welchen Strassenecken, vor welchen Gebäuden, in welchen Stadtteilen. Fred lebt gar nicht so alternativ, wie man sich das vorstellen könnte. Lange weigerte er sich dagegen, ein Handy zu besitzen, weil er nicht dauernd erreichbar sein wollte. Und seit er weiss, wer bei SMS und Telefongesprächen mitliest und mithört, fühlt er sich bei seiner Weigerung bestätigt. Als ich vor kurzem in der Bahn unterwegs nach Bern mit Schrecken feststellte, dass ich mein Handy zu Hause hatte liegen lassen, machte ich es Fred nach. Auch wenn ich niemanden anrufen musste, versuchte ich mir unterwegs vorzustellen, ich sei Fred. Fred hat Recht, das weiss ich mittlerweile. Es gibt so etwas wie eine städtische Telefonzellenlogik. Und diese Logik fördert das Nachdenken und die Bewegung.
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